Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter

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Speicher, und der hatte wieder eine Dachluke, die direkt ins Freie führte. Und in einer Juninacht oder genauer gesagt an einem frühen Junimorgen, gegen vier oder fünf, in einer mondlosen Nacht - denn wie Zauberinnen brauchten wir Dunkelheit und Einsamkeit für unsere Unternehmungen - krochen Lizzie und ihr Lehrling auf die Dachziegel hinaus.«
    »Mittsommer«, sagte Lizzie. »Entweder Mittsommernacht, oder ganz früh am Mittsommermorgen. Erinnerst du dich nicht, Liebling?«
    »Mittsommer, ja. Der grüne Angelpunkt des Jahres. Ja, Liz, ich erinnere mich.«
    Pause (einen einzigen Herzschlag lang).
    »Die Geschäfte des Hauses waren vorbei. Die letzte Kutsche war mit dem letzten Kunden davongerollt, der zu arm war, um die Nacht über zu bleiben, und alle hinter den vorgezogenen Vorhängen schliefen nun endlich. Selbst die Diebe, Halsabschneider und nächtlichen Streuner, die die schäbigen Straßen um unser Haus durchwanderten, hatten ihr Bett aufgesucht, entweder mit ihrer Beute zufrieden oder nicht, je nach ihrem Glück.
    Es schien, als fülle eine schweigende Erwartung die Stadt, als warte alles in einer erlesenen Spannung still auf ein beispielloses Ereignis.«
    »Und sie, obwohl es eine kühle Nacht war, sie hatte keinen einzigen Faden am Leib, weil wir befürchteten, daß jedes Kleidungsstück die freie Bewegung ihres Körpers behindern könnte. Auf die Dachziegel krochen wir hinaus, und der kleine Wind, der in den oberen Regionen wohnt, kam herbei und strich um die Schornsteine - es war weiches, kühles Wetter, und meine Hübsche hatte eine Gänsehaut, nicht wahr? Wie es dich geschaudert hat. Das Dach hatte eine sanfte Neigung, und wir krochen zur Dachrinne hinunter, und von dieser Seite des Hauses konnten wir die Themse sehen, den alten Fluß, der wie schwarzes Ölzeug glänzte, wo die schwankenden Positionslichter der Schiffer ihn berührten.«
    »Nun, wo es soweit war, hatte ich große Angst. Nicht nur die Angst, daß unser Experiment mit der Entdeckung enden würde, daß meine Flügel wie die einer Henne oder wie die rudimentären Stummel des Straußenvogels waren, daß diese Flügel in sich eine Art Trug der Natur darstellten, nur ornamental gemeint, nicht zum Gebrauch, wie die Schönheit bei manchen Frauen, Sir. Nein; ich war nicht nur voll Angst, weil das Morgenlicht, das schon dem weiten Himmel unter den Rock langte, mich dann, wenn seine kitzelnden Finger das Haus berühren würden, als Bündel zerschmetterter Knochen in Mutter Nelsons Garten liegen sehen könnte. Mit der einfachen Angst vor körperlichem Schmerz vermischte sich ein seltsamer Terror in meiner Brust, der mich dazu brachte, im letzten, keuchenden Augenblick mich an Lizzies Röcke zu klammern und zu betteln, sie möge doch unseren Plan aufgeben - denn ich litt unter dem tiefsten nur vorstellbaren Entsetzen angesichts des unauslöschlichen Unterschiedes, dessen Zeichen ich beim Gelingen des Versuchs tragen würde.
    Ich fürchtete mich vor einer Verletzung nicht des Leibes, sondern der Seele, Sir, einem nicht zu überbrückenden Zwiespalt zwischen mir und dem Rest der Menschheit.
    Ich fürchtete mich vor dem Beweis meiner eigenen Einzigartigkeit.«
    »Und wenn es sprechen könnte, würde nicht jedes kluge Kind aus dem Mutterschoß hervorrufen: ›Laßt mich hier im Dunkel! Laßt mir die Wärme! Laßt mich als Möglichkeit!‹ Aber die Natur läßt sich nicht abweisen. So hat das junge Wesen zu mir geschrien, sie wollte nicht sein, was sie werden mußte, und wenn mich auch ihre Klagen gerührt haben, daß ich tränenblind war, ich wußte, was sein wird, muß sein und - ich stieß sie fort.«
    »Die durchsichtigen Arme des Windes fingen die Jungfrau auf. Als ich an den Fenstern der Dachkammer vorbeistürzte, in der ich jene kostbaren, wachen, unschuldigen Nächte der Mädchenzeit verbracht hatte, stieg der Wind unter meinen ausgebreiteten Flügeln auf, und mit einem Ruck fand ich mich mitten in der Luft hängen, der Garten lag unter mir wie das Brett eines wundervollen Spiels und blieb wo er war. Die Erde stieg mir nicht entgegen. Ich lag sicher in den Armen meines unsichtbaren Liebhabers!
    Aber der Wind genoß meine staunende Reglosigkeit nicht lange. Langsam, langsam begann er - während ich starr vor Verblüffung an ihm hing -, mich durch seine Finger gleiten zu lassen, als ärgere ihn meine Passivität, und wieder fing mein furchtbarer Sturz an... bis mir meine Lektionen wieder einfielen! Und ich stieß meine Fersen nach oben, die ich