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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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Dachstube saß und wartete, daß mein Kleidungsstück fertig würde, begann ich mich in das Mysterium dieser weichen, fiedrigen Auswüchse zu vertiefen, die bereits jetzt meine Schultern mit dem Gewicht und der Dringlichkeit eines unsichtbaren Liebhabers nach hinten zogen. Vor meinem Fenster im kühlen Sonnenlicht sah ich die kreischenden Möwen, die dem sich hin- und herwindenden Lauf der mächtigen Themse folgen und auf den Strömen der Luft reiten wie Geister des Windes, und da kam es mir - wenn ich Flügel habe, muß ich fliegen!
    Es war früh am Nachmittag, und im Haus war es ganz still, jede Frau auf ihrem Zimmer und mit ihrem eigenen Zeitvertreib beschäftigt, ehe die Arbeit begann. Ich warf den Kaschmirschal ab, breitete meine frisch entfalteten Flügel und sprang, hopp! in die Luft.
    Aber nichts geschah, Sir, nicht einmal ein winziges Schweben, denn ich hatte den Bogen nicht raus, in gar keiner Weise, wußte nichts von der Theorie des Fluges noch vom Abfliegen noch der Landung. Ich sprang hoch - und kam wieder runter. Rums. Das war alles.
    Da dachte ich mir: Unten ist der Marmorkamin, da ist der Sims etwa sechs Fuß über dem Boden, und auf jeder Seite stützt ihn eine kräftige Marmorkaryatide! Und gleich trabte ich leise in das Empfangszimmer hinunter, denn ich dachte, wenn ich mit weitgebreiteten Flügeln vom Kaminsims springe, Sir, dann fängt sich soviel Luft in meinen Flügeln, daß es mich trägt und ich über dem Boden bleibe.
    Auf den ersten Blick hätte man dieses Zimmer für den Rauchsalon eines höchst exklusiven Herrenclubs halten können, denn Nelson ermunterte ihre Gäste zu einem beinahe ins Melancholische gesteigerten maskulinen guten Benehmen. Ledersessel und Tische, auf denen die Times lag (jeden Morgen von Liz gebügelt), das entsprach ihrer Vorstellung, und an den mit weinrot gemustertem Damast bespannten Wänden hingen Ölgemälde mit mythologischen Themen, so altersverfärbt, daß die gemalten Szenen in den schweren goldenen Rahmen voll mit dem Honig eines antiken Sonnenlichts schienen, der sich zu einer süßen Kruste kristallisiert hatte. All diese Bilder, einige der venetianischen Malerei zugehörig und zweifellos höchst erlesen, sind schon lange zerstört, mit Mutter Nelsons Haus zusammen, aber eins davon werde ich nie vergessen, denn es ist wie in mein Herz eingraviert. Es hing über dem Kamin, und ich brauche Ihnen kaum zu erzählen, daß es Leda und den Schwan darstellte.
    Alle, die ihre Bildergalerie sahen, wunderten sich darüber, daß Nelson die Bilder nie reinigen ließ. Sie sagte immer - nicht wahr, Liz -, daß die Zeit selbst, der Vater der Verwandlungen, der größte Künstler sei, dessen unsichtbare Hand um jeden Preis respektiert werden mußte, da sie in unerkannter Komplizenschaft mit der Hand jedes menschlichen Malers zusammenarbeitete. So sah ich wie durch einen Spiegel in einem dunklen Wort, was meine eigene Urszene hätte sein können, meine eigene Zeugung, den himmlischen Vogel, wie er in der weißen Majestät seiner Federn mit herrscherlicher Begierde auf das halbbetäubte und doch selbst in Leidenschaft erregte Mädchen herniederstieß.
    Als ich Mutter Nelson fragte, was das Bild bedeutete, sagte sie, es sei ein Sinnbild der blendenden Herbeikunft der fleischlichen Gnade.«
    Bei dieser bemerkenswerten Mitteilung warf sie Walser einen listigen Seitenblick zu, unter Wimpern hervor, die ein wenig dunkler waren als ihr Haar.
    Merkwürdiger und merkwürdigerer, dachte Walser, wie Alice im Wunderland; eine einäugige, metaphysisch veranlagte Madam in Whitechapel im Besitz eines Tizian? Soll ich es glauben? Soll ich so tun, als glaubte ich es?
    »Ein Freier, dessen Namen ich nicht zusammenbringe, hat ihr die Bilder geschenkt«, sagte Lizzie. »Er hat sie gemocht, weil sie ganz glattrasiert war.«
    Fevvers warf Lizzie einen mißbilligenden Blick zu, verdarb aber die Wirkung, indem sie kicherte. Lizzie kauerte nun zu Fevvers’ Füßen und benutzte dabei ihre eigene Handtasche als Schemel, ihre große Handtasche, ein Gerät aus rissigem Leder mit Schließen von verfärbtem Messing. Ihr Hakenkinn ruhte auf den Knien, die sie mit leberfleckigen Händen umklammert hielt. Es knisterte um sie, sie war von ihrer eigenen Elektrizität umgeben; nichts entging ihr. Der Wachhund. Oder... könnte am Ende gar etwa... war es möglich... Und Walser ertappte sich dabei, wie er sich die Frage stellte: Sind die beiden in Wirklichkeit Mutter und Tochter?
    Aber wäre dies so, welcher

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