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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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nordische Riese hatte dann die eine mit der dunklen, kleinen anderen gezeugt? Und wer und wo in dem ganzen Geschäft war der Svengali, der mephistophelische Impresario, der das Mädchen in ein Stück totale Künstlichkeit verwandelt, der aus ihr eine wundervolle Maschine gemacht und ihr eine Lebensgeschichte entworfen hatte? War die einäugige Hure, wenn sie existierte, der erste Manager dieser bizarren Komplizen gewesen?
    Er blätterte eine Seite in seinem Notizbuch um.
    »Stellen Sie sich vor, Sir, wie ich, nur mit Mutter Nelsons Schal bekleidet, in das Empfangszimmer schlich, wo die Läden fest verriegelt und die karmesinroten Samtvorhänge vorgezogen waren, wo alles noch die dunkle Nacht der Lust vorspiegelte, obwohl die Kerzen in den Kristalleuchtern ausgebrannt waren. Das duftende Feuer der letzten Nacht war nur noch ein Häufchen verkohlter Stecken im Kamin, und die Gläser, in denen nur der schale Bodensatz der Ausschweifung geblieben war, lagen verstreut auf dem Buchara-Teppich, wie sie hingefallen waren. Das schwächliche Lichtlein der dünnen Kerze, die ich bei mir trug, berührte die Majestät des Schwanengottes an der Wand und ließ mich träumen, träumen und waghalsig handeln.
    So gutgewachsen ich war, ich mußte einen Stuhl an den Kaminsims rücken, um hinaufzusteigen und die vergoldete französische Uhr herunterzuholen, die dort unter einem Glassturz stand. Diese Uhr war sozusagen das Zeichen, das Emblem von Mutter Nelsons kleinem privatem Reich. Die Figur der Zeit mit der Sense in der einen Hand, einem Schädel in der anderen, stand über einem Zifferblatt, auf dem die Zeiger immerwährend entweder Mitternacht oder Mittag wiesen, großer und kleiner Zeiger wie im Gebet zusammengeschoben, denn Mutter Nelson sagte, die Uhr in ihrem Empfangszimmer müsse das genaue Zentrum des Tages oder der Nacht zeigen, die schattenlose Stunde, die Stunde der Visionen und Offenbarungen, die ruhige Stunde im Zentrum des Sturmes der Zeit. - Sie war schon merkwürdig, die Mutter Nelson.«
    Das glaubte Walser ohne weiteres.
    »Ich nahm die alte Uhr weg, damit ich Platz hatte, mich zu bewegen, und setzte sie sorgfältig neben dem verschmutzten Kamin ab. Dabei drang aus dem alten, längst dahingeschiedenen Mechanismus ein schwaches, melodisches Klingen, als wollte mich das Uhrwerk ermutigen. Da kletterte ich hinauf und stand nun, wo der alte Sensenmann gestanden hatte, die bärtige Zeit, und wie ein Mann, der sich erhängen will, stieß ich mit dem Fuß den Stuhl weg, damit ich nicht in Versuchung kam, wieder auf ihn hinunterzuspringen.
    Was für eine große Strecke schien es zum Boden hinab! Es waren nur ein paar Fuß, verstehen Sie, keine große Entfernung an sich - aber sie gähnte vor mir wie eine Schlucht, und in der Tat könnte man sagen, daß dieser Schlund, der nun vor mir lag, den großen Abgrund darstellte, den Abyssos, die scharfe Grenzscheide, die mich von da an von der gemeinen Menschheit trennen würde.«
    Mit diesen Worten richtete sie ihre immensen Augen auf ihn, diese Augen, »für die Bühne geschaffen«, deren Botschaften man von den Stehplätzen auf der Galerie aus entziffern konnte. Die Nacht hatte ihre Farbe vertieft: die Iris war nun purpurn und stimmte mit den Parmaveilchen vor dem Spiegel zusammen, und die Pupillen hatten sich so an der Dunkelheit gemästet, daß die ganze Garderobe und alle Personen darin spurlos in diesen zwingend leeren Öffnungen hätten verschwinden können. Walser hatte ein äußerst seltsames Gefühl, als ob die Augen der Artistin zwei endlose Reihen ineinandergeschachtelter Behältnisse wären (wie russische Puppen), als ob jedes davon sich öffnete in eine Welt hinein und wieder in eine Welt und in eine Welt, eine unendliche Pluralität von Welten, und diese unausdenklichen Tiefen übten auf ihn die höchste nur vorstellbare Anziehungskraft aus, so daß er sich zittern fühlte, als stünde auch er auf einer unbekannten Schwelle.
    Von seiner eigenen Verwirrung überrascht, schüttelte er innerlich rasch sein Bewußtsein, um seinen Pragmatismus zu erfrischen. Sie senkte die Lider, als wüßte sie: genug ist auch genug, und nahm einen Schluck von dem abgestandenen Champagner, ehe sie fortfuhr. Ihre Augen kehrten zum Zustand einfacher blauer Augen zurück.
    »Ich stand auf dem Kaminsims und schauderte ein wenig, denn es war verdammt kalt dort im Zimmer, ehe Lizzie Feuer machte, und der Teppich schien weiter entfernt denn je. Aber dann denk ich mir: wer wagt, gewinnt. Und

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