Nächte im Zirkus
wie er. Nun sahen alle um ihn plötzlich spontan dasselbe wie er. Das kam ihm merkwürdig vor. Das Piano, dessen schön gestimmte Tonleiter ihm einen Schauer über die Haut jagte, stammte aus dem Traum eines anderen, nicht aus seinem Traum, nicht aus irgendeinem Traum, der ihm vertraut gewesen wäre. Wenn es aus Walsers Traum kam, dann war Walser auf dem Weg zur vollen Schamanenschaft schon viel weiter, als der Schamane gedacht hätte. Das Haus vor ihnen, das Lied, das aus ihm aufstieg, die ruhenden Tiger obendrauf und die seltsame Gruppe rundäugiger Individuen, die nun vom Fluß her kamen und Eisblöcke trugen, in denen Fische waren, all dies verunsicherte den Schamanen. Er hatte das Gefühl, daß er nicht mehr auf dem laufenden war.
Als die Rundaugen auftraten, war es Walser, als erweiche eine frühe Schneeschmelze sein Gehirn. Unsicher, was er denken sollte, unsicher, wie er überhaupt noch denken sollte, trieb er sein Rentier voran, um besser zu sehen.
»Jack! Jack!«
Sie hätte den Klang der Axt des Holzhauers nachahmen können, so wenig Sinn enthielt der Laut für ihn. Die Musik brach mit einem Mißklang ab; laut und deutlich rief es nun in der plötzlichen Stille:
»Jack Walser!«
Sein Name, im Mund des geflügelten Wesens. Ein Zeichen! Doch es reichte nicht, den Schamanen ganz zufriedenzustellen. Denn er war es gewohnt, mit allen möglichen anomalen imaginären Wesen umzugehen und zu unterhandeln, geflügelt oder nicht, mit Bärenköpfen und Elchfüßen, Fischleibern und Adlerflanken, mochte sie mit ihrem gelben Haar, den behaarten Beinen und dem Gefieder mit seinen leuchtenden, künstlichen Farben, wie man sie zuvor nur auf Tauschhandelsdecken gesehen hatte, feindlich gesinnt sein oder nicht. Selbst wenn sie den Namen seines Lehrlings kannte, vollführte sie doch ein, was ihn betraf, kaum glaubliches Geschrei. Außerdem waren ihre Flügel, mit denen sie prunkte, nicht einmal funktionsfähig - jetzt fiel sie mit einem feuchten Aufschlag würdelos in eine Schneewehe. Eine höchst inkompetente Erscheinung! Und nun ließ sie die wütenden Tiger los!
Hastig fing der Schamane an, eine zauberische Verteidigung zu trommeln, während sich die Angehörigen des Stammes in verschiedenen Richtungen rasch zerstreuten, ungeordnet, mit scharfen Schreien der Enttäuschung und Empörung. Walser, den ein ekstatischer Anfall überkommen zu haben schien, der mindestens ebenso mächtig war wie der beste, den der Schamane zu erreichen vermochte, versuchte die haltlose Flucht seines Reittiers zu verlangsamen, doch ohne Erfolg: Es hielt erst im Dorf wieder inne, wo es ihn mit einer Art Achselzucken von seinem Rücken warf, erleichtert aufseufzte und im Moos zu äsen begann. Walser rollte im Schnee herum, kichernd und prustend. Er ergriff seinen kaninchenfellbezogenen Schlegel und setzte mit dessen Hilfe eine Freudenhymne aus der Trommel frei.
»Ich habe sie schon früher gesehen!« erzählte er dem Schamanen eifrig, als der ankam. »Ich kenne sie sehr gut!«
Der Schamane hielt das für sehr wahrscheinlich, aber er sah darin nicht unbedingt ein gutes Zeichen, denn sein Lehrling war drauf und dran, ihn selbst zu überholen, und konnte schon die Geheimnisse der Geister hervortrommeln.
»Frau, Vogel, Stern«, plapperte Walser. »Ihr Name ist -«
IX
Obwohl sie von ferne noch als Blondine durchgehen konnte, war an den Wurzeln von Fevvers’ Haaren nun gut ein Zoll braune Farbe zu erkennen, und Braun zeigte sich auch in ihrem Gefieder, weil sie in der Mauser war. Lizzies Handtasche hätte vielleicht Wasserstoffsuperoxyd enthalten, um das eine Problem zu korrigieren, und vielleicht auch ein Fläschchen rote Tinte für das andere - elementare Magie für den Hausgebrauch! - aber die Handtasche war weg, unwiederbringlich in den Trümmern des Zuges verloren; und nun sah der tropische Vogel jeden Tag mehr aus wie der Londoner Spatz, der er zu Anfang gewesen war, als löse sich ein Zauber auf. Fevvers fühlte sich mürrisch und gereizt, wie sie sich rasch in dem kleinen Spiegel voll Fliegendreck betrachtete, in dem Lizzie eben die weiße Mähne des alten Mannes auf Maestro-Länge schnitt, daß sie gerade noch den Kragen streifte.
»Da bitte! Sieht er nicht hübsch aus?«
Seine Geschichte war einfach. Er war schon in mittleren Jahren, als er sich von seiner sicheren Stelle als Musiklehrer in Nowgorod durch die Versprechungen des korrupten Bürgermeisters von R. weglocken ließ, der für sein Projekt eines Transbaikalischen
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