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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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fühlen, spielte gelangweilt mit ihrem Veilchenstrauß. Irgend etwas, irgendwo, klappte und klirrte, vielleicht der Deckel des Teekessels. Sie horchte. Dann trieb die geräuschlose Nacht ihnen wieder die Glockenschläge von Big Ben zu, und plötzlich war sie wieder lebhaft und geschwätzig.
    »Schon zwölf Uhr! Wie die Zeit doch vergeht, wenn man von sich selbst erzählt!«
    Zum ersten Mal in dieser Nacht war Walser ernstlich beunruhigt.
    »He, einen Moment! Hat diese Uhr nicht schon vor einer Weile Mitternacht geschlagen, nachdem der Nachtwächter da war?«
    »Hat sie das, Sir? Wie soll das zugehen? Aber nein doch, Sir! Hat sie nicht grade eben - zehn, elf, zwölf - geschlagen? Sind wir nicht beide dagesessen und haben’s gehört? Schauen Sie auf Ihre Uhr, Sir, wenn Sie mir nicht glauben.«
    Walser sah gehorsam auf seine Taschenuhr: Die Zeiger berührten sich zur Mitternacht. Er hielt sie ans Ohr, wo sie wie gewöhnlich geschäftig tickte. Lizzie kehrte mit dem tropfenden Kessel zurück.
    Die Garderobe war für die Zubereitung von Tee vollständig eingerichtet: Ein messingner Spirituskocher stand im Schrank neben dem Kamin, ebenso ein Lacktablett, auf dem eine untersetzte braune Teekanne und dicke weiße Becher wohnten. Lizzie entzündete mit einem Streichholz die kleine Flamme und griff wieder in den Schrank, um eine blaue Zuckertüte und einen Milchkrug hervorzuholen.
    »Wieder leer«, stellte sie nach einem Blick in den Krug fest.
    »Dann müssen wir ihn halt schwarz trinken.«
    »Nun - nun ja, vielleicht hab ich mich verhört«, murmelte Walser und schob die Uhr in seine Brusttasche zurück.
    »Wie war das?« stach Lizzie zu, die scharfe Ohren hatte.
    »Er glaubt, wir haben BigBen eine Stunde zurückgestellt«, sagte Fevvers mit unbewegtem Gesicht.
    »Höchstwahrscheinlich«, sagte Lizzie verächtlich. »Sehr plausibel.«
    Fevvers war ein ausgesprochenes Leckermaul: Sie maß sich den Zucker gar nicht erst ab, sondern kippte ihn direkt aus der Tüte in langem Strom in ihren dampfenden Becher. Sich die Hände an der Rundung wärmend - denn, welche Zeit es nun auch sein mochte, es war die Kühle der Nacht - begann sie wieder.
    Ihre Stimme. Es war, als sei Walser der Gefangene ihrer Stimme geworden, ihrer düsteren, wie unterirdisch hallenden Stimme, einer Stimme, geschaffen, um den Sturm zu überschreien, dieser Stimme eines himmlischen Fischweibs. Zwar war sie seltsam melodisch, doch es war keine Stimme für den Gesang - sie enthielt Dissonanzen, ihre Tonleiter umfaßte zwölf Töne. Ihre Stimme, mit den verschobenen, gemütlich-ordinären Cockney-Vokalen und den nachlässig plazierten Aspiraten. Ihre dunkle, rostige, schwankende, springende Stimme, gebieterisch wie die einer Sirene.
    Eine solche Stimme hätte wiederum ihren Ursprung fast außerhalb ihrer Kehle haben können, in irgendeinem ingeniösen Mechanismus hinter dem Wandschirm; Stimme eines betrügerischen Mediums bei einer Séance.
    »Mutter Nelson fand ihr Ende furchtbar rasch. Eines Tages rutschte sie auf irgendeinem nicht hergehörigen Gegenstand aus, Obstschale oder Hundekot, während sie die Whitechapel High Street überquerte, auf dem Weg zu Blooms, um uns allen Sandwiches mit Pökelrindfleisch zu kaufen... sie fiel unter die Hufe und Räder eines Brauereigespanns und wurde sofort zermalmt.«
    »Tot, als sie im Krankenhaus eingeliefert wurde, die arme Alte«, fiel Lizzie wie eine gesprungene Glocke ein. »Nicht einmal mehr Zeit für ein ›Küß mich, Hardy‹ wie bei Trafalgar oder so, keine letzten Liebesworte. Wir haben sie schön zu Grabe getragen - schwarze Straußenfedern und ein Leichenkondukt mit lauter schwarzumflorten Zylindern, Sir, Whitechapel hat so was nie zuvor und nie nachher gesehen! Dem Trauerzug folgten Scharen kummervoller Huren.«
    »Aber als wir im Wohnzimmer zu Hause ein wenig beim Leichenschmaus saßen, ganz unter uns, nachdem wir das liebe alte Mädchen zur Ruhe geleitet hatten, klopft es plötzlich an die Tür wie beim Tag des Gerichts.«
    »Und es war auch der Tag des Gerichts, Sir, denn wen laß ich zur Tür herein als einen Methodistenpfarrer, Priesterkragen bis zu den Ohren, und knirscht mit den Zähnen und schreit: ›Der Sünde Sold mag nun das Werk des Herrn bezahlen!‹
    Nelson hatte nämlich, als sie im besten Alter von uns ging - nicht viel älter, als meine Lizzie jetzt ist -, nicht daran gedacht, ein Testament zu machen, wenn sie uns auch als ihre Adoptivtöchter ansah, aber an den Tod zu denken, das konnte

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