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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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der Menschliche Aal hat sich bald in Esmeraldas Herz geschlängelt, so sehr, daß sie nun zwei eigene kleine Aalraupen haben, liebe Dinger, und Liz und ich sind die Paten, Sir.«
    »Wir beide sind auch nicht heimatlos geblieben. Im Lauf der Jahre haben Fevvers und ich unseren ganzen Verdienst und alle Trinkgelder in das Geschäft meiner Schwester gesteckt, und da wartete nun ein Zimmer auf uns. Wir beschlossen also, uns dorthin zurückzuziehen, ›zurückfallen, um besser vordringen zu können‹, wie die Franzosen sagen. Meine Schwester Isotta. Bestes Speiseeis in London. Beste Cassata außerhalb Siziliens. Altes Familienrezept. Il mio papa hat’s mitgebracht. Und unsere bombe surprise -«
    »Hoppla!« rief Fevvers, die in diesem Augenblick durch irgendeine ungeschickte Bewegung ihre Puderschachtel umgeworfen hatte. Wie peinlich! Es brauchte eine gewisse Zeit, bis der verschüttete Puder von den Gegenständen auf dem Schminktisch entfernt worden war, und dann fuhr Fevvers selbst wieder fort.
    »So waren wir Mädels alle zufriedenstellend versorgt, und keine von uns hat in dieser Nacht ein Auge zugetan, da wir alle mit Planen und Packen beschäftigt waren. Als nun alles endlich verstaut war, versammelten wir uns im Empfangszimmer, um die letzte Flasche von Mutter Nelsons Port zu leeren, die Esmeralda klug hinter den Kaminschirm geschoben hatte, als dieser wahnsinnige Pfarrer hereingestürmt kam. Wie traurig war es, einander Lebewohl zu sagen und von diesem Raum Abschied zu nehmen, in dem so viele bittersüße Erinnerungen ruhten, Demütigung und Gemeinschaft, Hurerei und schwesterliches Leben. Und für mich wird dieses Zimmer in meiner Erinnerung immer geheiligt sein als der Ort, wo ich mich zuerst von der Schwerkraft frei machte. Wir nahmen jede ein kleines Souvenir zum Andenken mit an die tapfere Nelson.«
    »Ich -«, sagte Lizzie, »ich hab die französische Uhr genommen, die immer Mitternacht oder Mittag zeigt -«
    »- denn ist die nicht der augenscheinliche Beweis dafür, daß die Zeit stillsteht, Sir?«
    Und Fevvers öffnete ihre großen Augen weit und sah ihn wieder an, mit einem solchen Sausen ihrer Wimpern, daß die Seiten seines Notizbuchs im Luftzug raschelten - wenn auch wegen der späten Stunde das dicke, leuchtende Weiß ihrer Augen nun leicht rotgeädert war.
    »Diese Uhr - Sie finden sie gleich dort, auf dem Kaminsims, denn wir bewegen uns nie ohne sie, keinen Zoll. Ach, was ist denn das! Da hab ich doch meine Höschen in der Eile beim Ankleiden für die Show heute abend drübergeworfen, daß sie ganz verdeckt ist!«
    Sie streckte einen langen Arm durch das Zimmer und zupfte die voluminösen Unterhosen von einer sehr hübschen altmodischen Uhr, der Uhr ihrer Erzählung, mit der allegorischen Figur der Zeit mit Sense und Schädel über dem Zifferblatt und den beiden Zeigern für alle Ewigkeit auf der Zwölf. Dann ließ sie die Hosen zu einem Häufchen Spitzen auf Walsers Schoß zusammensinken. Die Frauen lachten vor sich hin, als er sie mit taktvollem Daumen und Zeigefinger entfernte und sie hinter sich aufs Sofa legte.
    »Und ich«, sagte sie, »ich hab mein Schwert genommen, das Schwert der Viktoria, das Schwert, das sein Leben auf Nelsons Bein begonnen hat.«
    Sie fuhr mit der Hand in den Ausschnitt ihres Morgenrocks und zog ein vergoldetes Schwert hervor, um es dann über ihrem Kopf zu schwingen. Obwohl es nur das kleine Spielzeugschwert der Paradeuniform eines Admirals war, blitzte und glitzerte es so scharf in dem müden Licht, daß Walser zusammenzuckte.
    »Mein Schwert. Ich hab es immer dabei, aus Gründen der Erinnerung sowie der Selbstverteidigung.«
    Als sie sich vergewissert hatte, daß er die Schärfe der Klinge bemerkt hatte, schob sie es an seinen Ort zurück.
    »Gegen Ende der Nacht hockten wir zusammengedrängt wie traurige Vögel in dem Salon und nippten unseren Port und knabberten ein wenig an dem Teekuchen, den Lizzie für Weihnachten gebacken hatte, den aufzuheben jetzt aber keinen Sinn mehr hatte. Wie traurig der Raum war, und wie kalt! Wir hatten uns nach der Beerdigung nicht die Mühe gemacht, ein Feuer anzuzünden, und jetzt lag nur noch ein wenig nostalgische Sandelholzasche im Kamin. Dauernd ging’s ›Weißt du dies noch?‹ und ›Weißt du das noch?‹, bis unsere Jenny sagt: ›Hört mal, warum machen wir nicht mal die Vorhänge auf und lassen Licht auf die Chose fallen, denn dieses Zimmer, das sehen wir nie mehr.‹
    Und die Vorhänge waren nie, so lange ich

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