Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
Vom Netzwerk:
Standpunkt aus betrachtet, wissen Sie. Sollte ich wirklich die genaue Kopie der Venus sein, dann müßte eine mit meinen Maßen Beine wie Baumstämme haben, Sir - diese schwächlichen kleinen Stelzen sind mir schon mehr als einmal unter dem topplastig verteilten Gewicht meines Torsos zusammengeknickt, die haben mich hinschlagen und mit dummem Gesicht daliegen lassen. Das Gehen ist bei mir nicht ganz das Wahre, Sir, zu sehr auf den Spitzen - jeder Vogel mit meinen Proportionen hätte kleine kurze Beine, die er unter sich ziehen könnte, um als reiner Keil die Luft zu spalten, und ich gutes altes Steckenbein bin halt unten weder wie ein richtiger Vogel noch wie eine Frau eingerichtet.
    Als ich dieses Problem mit Lizzie besprochen habe -«
    »- hab ich einen Sonntagsspaziergang in den Zoo vorgeschlagen, einen Nachmittag bei den Störchen, Kranichen und Flamingos -«
    »- und der Anblick dieser langbeinigen Kreaturen versprach mir - herrlich! - die Möglichkeit langdauernden Fluges, was ich für unmöglich gehalten hatte. Denn die Kraniche überqueren ja ganze Kontinente, sie überwintern in Afrika und sind im Sommer an der Ostsee! Ich schwor mir, ich würde lernen, wie die großen Vögel zu schweben, zu steigen, herabzustoßen, endlich den Albatros nachzuahmen und freudig über die hohen Breitengrade zu gleiten, die Brüllenden Vierziger, die Wütenden Fünfziger, diese Winde wie der Atem der Hölle, die den weißen Südpol bewachen! Denn so wie mir die Beine wuchsen, wuchs meine Spannweite, und mein Ehrgeiz wuchs und hielt mit beiden Schritt. Nie würde ich mich mit kurzen Hüpfern in die Hackney Marshes zufriedengeben. Von Geburt vielleicht ein Cockney-Spatz, aber nicht aus Neigung! Ich sah meine Zukunft als ein unaufhörliches Hin- und Herkreuzen um den Globus, denn ich wußte noch nichts von den Zwängen, welche die Welt uns auferlegt: Ich wußte nur, daß mein Körper die Wohnstatt grenzenloser Freiheit war.
    Am Anfang muß man mit Wenigem zufrieden sein, Sir. In mondlosen Nächten aufs Dach steigen, wenn niemand es sieht, und zu geheimen Flügen über der schlafenden Stadt aufbrechen... Einige frühe Versuche konnten wir, wie wir entdeckten, in unserem eigenen Vorderzimmer durchführen, das vertikale Abheben zum Beispiel.«
    Lizzie wiederholte wie eine Lektion aus einem Lehrbuch: »Wenn der Vogel plötzlich senkrecht nach oben steigen will, senkt er seine Ellenbogen, nachdem er den entsprechenden Impetus erzeugt hat -«
    Fevvers schob ihren Stuhl zurück, hob sich auf die Zehenspitzen und reckte das Gesicht zur Zimmerdecke, auf dem plötzlich der Ausdruck paradiesischer Seligkeit lag, das Gesicht eines Engels aus einem Sonntagsschulbilderbuch -eine bemerkenswerte Verwandlung. Sie kreuzte die Arme über ihrer massiven Büste, und die Schwellung hinten unter ihrem Satinmorgenrock begann zu beben und zu flattern. Risse erschienen in dem alten Stoff. Alles schien aufbrechen und hervortreten zu wollen. Doch die losen Haarlocken, die sich oben auf ihrem hochgetürmten Chignon regten, streiften bereits den einen oder anderen herabwehenden Spinnwebfaden von der rauchverfärbten Decke, und Lizzie warnte:
    »Nicht genügend Platz hier, Kindchen. Mußt du schon seiner Phantasie überlassen. Nelsons Zimmer war doppelt so hoch wie dieses lausige Loch unterm Dach hier, und unser Mädel war halb so groß damals - bist nur so in die Höhe geschossen mit siebzehn, nicht wahr, mein Liebling.« O, die Liebkosung in ihrer Stimme!
    Fevvers sank zögernd auf ihren Stuhl zurück; ihre Stirn umschattete sich düster.
    »Da war ich siebzehn, und dann begannen unsere schlimmen Jahre, die Jahre in der Wüste.« Wieder ein vulkanisches Aufseufzen. »Noch was von dem Sekt da, Liz?«
    Lizzie spähte hinter den Wandschirm.
    »Ist es zu glauben, wir haben die Kiste verarztet.«
    Leere Flaschen, die auf dem Boden zwischen der vermieften Unterwäsche umherrollten, gaben dem Zimmer ein wüstes Aussehen.
    »Na, dann mach uns ein Täßchen Tee, sei so lieb.«
    Lizzie lief geduckt hinter den Wandschirm und kam mit einem Blechkessel zurück: »Ich geh mal rasch an den Wasserhahn im Gang draußen.«
    Als er mit der wunderbaren Riesin allein war, sah Walser die Unterströmung des Mißtrauens ihm gegenüber, die sie während des Interviews teilweise verborgen hatte, an die Oberfläche treten. Ihre joviale Freundlichkeit zerging: Sie sah ihn mit halbgeschlossenen Augen unter ihren dicken hellen Wimpern beinahe feindselig an, schien sich unbehaglich zu

Weitere Kostenlose Bücher