Nächte im Zirkus
schwankten.
Big Ben fuhr fort mit seinem Spiel, dann schlug die Uhr - und fuhr fort, zu schlagen.
Walser sackte auf das Sofa zurück, wobei er nicht nur ein Schlangenknäuel von seidener Unterwäsche herunterwarf, sondern auch den bisher verborgenen Stapel von Broschüren und Zeitungen, der darunter gelegen hatte. Entschuldigungen murmelnd raffte er die starkriechenden Kleidungsstücke wieder zusammen, während Lizzie, wütend schnatternd und schimpfend, ihm die Schriften entriß und sie in den Eckschrank stopfte. Seltsam war das - daß sie ihn nicht ihre alten Zeitungen sehen lassen wollte.
Aber noch seltsamer: Big Ben hatte wiederum Mitternacht geschlagen. Die Zeit draußen entsprach noch immer der, welche die stehengebliebene vergoldete Uhr hier drinnen anzeigte; innen und außen entsprachen sich präzise, aber mit beiden war es durchaus nicht richtig.
Hm.
Er lehnte ein Schinkensandwich ab: Die rostigen Fleischstreifen, zwischen die Treppenstufen des Weißbrots geklatscht, schienen ihm nur einer Situation extremsten Hungers angemessen. Fevvers aber langte genießerisch zu, kräftig kauten große Zähne, volle Lippen schmatzten, fettverschmiert. Lizzie reichte ihm einen frischen Becher Schwarztee, mit dem er sich die Gurgel verbrennen konnte. Alles geradezu penetrant normal, außer der Stunde.
Das Essen gab der Artistin neue Kraft. Ihr Rücken straffte sich, und sie begann wieder zu glänzen, ganz hell, als sie sich noch einmal den Mund am Ärmel abwischte, wobei glitzernde Spuren von Schinkenfett auf dem schäbigen Satin zurückblieben.
»Wie gesagt«, nahm sie den Faden wieder auf, »wir lebten eine Weile bei Isotta in Battersea inmitten all der Freuden einer gemütlichen Häuslichkeit. Und ganz besonders schön war es, daß wir nur einen Katzensprung von dem guten alten Victoria-Theater weg waren, dem Old Vic in der Waterloo Road, wo wir zu sehr vernünftigen Preisen oben im Olymp hockten und über Romeo und Julia weinten, den buckligen König Dick auszischten und -buhten, uns dämlich lachten über Malvolios gelbe Strümpfe -«
»Wir lieben Shakespeare, den großen Barden, Sir«, sagte Lizzie knapp. »Wieviel geistige Nahrung er uns bietet!«
»Und Opern haben wir uns auch schon mal angesehn - unsere Lieblingsopern, Sir? Nun -«
» Hochzeit des Figaro, wegen der Klassenanalyse«, schlug Lizzie unbewegten Gesichts vor. Fevvers’ lautes Lachen verbarg ihre Irritation nicht völlig.
»Ach, Liz, du bist mir eine! Was mich betrifft, Sir, ich schätze besonders Bizets Carmen, wegen der unbezähmbaren Energie der Heldin.«
Sie richtete das blaue Bombardement ihrer Augen auf Walser, Herausforderung und Attacke zugleich, ehe sie weitererzählte.
»So lebten wir in Battersea, frohe Tage! Aber es kam ein entsetzlich kalter Winter mit sehr wenig Bedarf an Speiseeis, und Gianni -«
»- Isottas Mann, mein Schwager -«
»Giannis Lungenkrankheit verschlimmerte sich. Da sie fünf Kleine hatten und das nächste in der Röhre, mußten wir bei den schlechten Umsätzen arg sparsam sein, ich kann’s Ihnen sagen. Dann wurde das Baby krank und wollte nichts zu sich nehmen, und wir waren alle verrückt vor Sorge.«
»Eines Morgens, die älteren Kinder in der Schule, Gianni geschäftlich unterwegs in dem eisigen Novembernebel, die arme Seele, mit seinem Husten, Isotta oben bei dem Baby mit ihrem Kummer, ich selbst in der Küche, hab Zitronat kleingeschnitten, Fevvers im Zimmer hinter dem Laden, bringt der Vierjährigen das Alphabet bei -«
»Obwohl ich schon wußte, daß ich keines besonders verwöhnen sollte, und ich hab sie auch wirklich alle lieb wie meine eigenen, nun, meine Violetta...«
Sie streckte die Hand aus, um das Sträußchen Parmaveilchen zu streicheln, das auf dem Tisch stand, mit einem Lächeln, das dieses eine Mal nicht für Walsers Augen bestimmt war.
»Mit meiner Violetta auf meinem Knie erforschen wir gerade das große Abenteuer von A und B und C, als die Türglocke klappert und klingelt, und im Laden steht die seltsamste alte Dame, die ich je gesehen habe, in den Kleidern ihrer Jugend, das heißt: etwa fünfzig Jahre hinter der Mode, ein Kleid aus schwarzem Chiffon, das nur noch wie Fetzen aussah, über einer solchen Masse Taftunterröcken, daß man zuerst nicht sehen konnte, wie dünn sie war, daß sie eine Dame nur aus Haut und Knochen war. Auf dem Kopf trug sie einen altmodischen Schutenhut aus stumpfem schwarzem Satin mit Jettornamenten zu beiden Seiten, von dem vorn ein schwarzer
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