Nächte im Zirkus
ließ Lizzie schlafend in unserem Bett liegen, packte hastig ein paar Sachen in eine Reisetasche und vergaß nicht meinen Talisman, Mutter Nelsons kleines Schwert, das mir Mut machen sollte. Ich ließ einen hastig bekritzelten Zettel auf dem Küchentisch zurück und marschierte über die Chelsea Bridge, als gerade der Mond unterging. Es war bitter-, bitterkalt, und nicht einmal bei Nelsons Begräbnis war mein Herz so schwer gewesen. Als ich den letzten Laternenpfahl auf der Brücke erreichte, erlosch die Lampe, und ich verlor Battersea in der Dunkelheit vor dem Morgen aus den Augen.«
IV
»Jetzt haben Sie Ihr Notizbuch vollgeschrieben«, bemerkte Lizzie. Walser drehte es um, damit er auf den freigebliebenen Rückseiten fortfahren konnte. Er spitzte seinen Bleistift mit der Rasierklinge, die er zu diesem Zweck stets in einer Innentasche bei sich trug. Er schüttelte und entspannte das schmerzende Handgelenk. Lizzie goß ihm seinen Becher wieder voll, wie um ihn für diese Tätigkeiten zu belohnen, und Fevvers hielt ihr auch den Becher hin. »Durstige Sache, so eine Autobiographie«, sagte sie. Ihr überschwenglich wucherndes Haar fing an, sich Lizzies Haarnadeln zu entwinden, und streifte schon ausgelassen über ihren stiermassiven Nacken.
»Mr. Walser«, fuhr sie ernsthaft fort und kreiselte auf ihrem Stuhl zu ihm herum: »Sie müssen verstehen - Nelsons Akademie stand denjenigen zur Verfügung, die in ihren Körpern geschwächt und verwirrt waren und sich dessen versichern wollten, daß die Freuden des Fleisches, wieviel sie auch kosten mochten, wie schillernd mehrdeutig sie sein mochten, im Grunde etwas Herrliches waren. Madame Schreck aber bediente die, deren Verstörung... in der Seele lag.«
Finster konzentrierte sie sich einen Augenblick auf ihren schwarzen, sirupflüssigen Tee.
»Es war ein düsteres herrschaftliches Gemäuer in Kensington, an einem Platz, in dessen Mitte ein melancholischer Garten voll zertretenem Gras und laublosen Bäumen lag. Die Fassade des Hauses war vom Ruß Londons geschwärzt, als ob die ganze Stukkatur in Trauer wäre. Ein niedriger Portikus hing drohend über der Eingangstür, Sir, und alle Läden waren lückenlos verriegelt. Und der Türklopfer ominös mit schwarzem Krepp verhüllt wie bei einem Trauerhaus.
Derselbe Mann ohne Mund, armer Kerl, öffnet mir die Tür, nachdem innen eine ganze Menge Riegel zurückgeschoben und Ketten abgenommen worden sind, und heißt mich mit beredten Gesten eintreten. Nie habe ich Augen so voller Trauer gesehen, Trauer des Exils und der Verlassenheit; seine Augen sagten, klarer als seine Lippen es vermocht hätten: ›O Mädchen! geh nach Hause! Rette dich, solang noch Zeit ist!‹, wenn er mir auch gerade meinen Hut und meinen Umhang abnimmt, aber ich bin die gleiche arme Kreatur unter Zwang wie er, und wie er bleiben muß, so auch ich.
So früh am Morgen es für ein Freudenhaus war - es war noch nicht sieben -, Madame Schreck war anscheinend bereits wach, wenn auch noch im Bett, wo sie ihre Schokolade nahm. Sie ließ mich niedersitzen und eine Tasse mit ihr trinken, was ich bereitwillig genug tat, trotz meiner zitternden Furcht, denn der lange Weg hatte mich erschöpft, und ich war sehr hungrig. Die Läden waren geschlossen, die Jalousien herabgezogen, die schweren Vorhänge zu, und das einzige Licht in ihrem Schlafzimmer war ein kleines Nachtlicht oder Totenlicht auf dem Kaminsims, so daß ich kaum sehen konnte, was für eine Hexenbrühe eigentlich in meiner Tasse ist, und sie liegt da, in einem alten Baldachinbett, dessen bestickte Vorhänge beinahe ganz zugezogen sind, so daß ich Gesicht und Gestalt nicht erkennen kann, und alles kalt wie die Hölle.
›Freut mich, dich bei mir zu sehen, Fevvers‹, sagt sie, und ihre Stimme war wie der Wind in den Friedhöfen. ›Toussaint wird dir dann dein Quartier zeigen, und du kannst dich bis zur Essenszeit ausruhen; dann werden wir deine Maße nehmen, für das Kostüm.‹ Wie sie es sagte, hätte man gemeint, dieses Kostüm sollte ein Leichentuch sein.
Als sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, sah ich, daß das einzige andere Mobiliar des Zimmers neben ihrem Bett und meinem Stuhl in einem Safe bestand, so groß wie ein Kleiderschrank, mit dem dicksten messingnen Kombinationsschloß, das ich je gesehen habe, und in einem fest verschlossenen Rolladenschreibtisch.
Das war alles, was sie zu mir sagte. Ich beeilte mich mit meiner Schokolade, das kann ich Ihnen sagen. Dann legt mir der
Weitere Kostenlose Bücher