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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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gepunkteter Schleier herabhing, so dicht, daß man ihr Gesicht nicht sehen konnte.
    ›Laß mich ins Hinterzimmer gehen, Geflügelte Nike‹, sagte sie, und sie hatte eine Stimme wie der Wind in den Telegraphendrähten.
    Violetta brach beim Anblick meiner Besucherin in Tränen aus, und ich schickte sie rasch in die Küche, wo sie sich von Lizzie mit Nüssen und Zitronat verwöhnen lassen sollte, aber ich war selbst vor dieser Erscheinung einigermaßen außer Fassung und bot ihr den besten Stuhl am Kaminfeuer an (denn man konnte sehen, daß sie eine vollkommene Dame war), während ich stotterte und konfus hin- und herlief, wie es für mich ganz ungewöhnlich war. Sie streckte ihre Hände nach den Flammen aus - sie trug jedoch diese großtantenmäßigen Handschuhe aus schwarzer Spitze, die nur bis zum ersten Fingerglied reichen, so daß man von ihren Händen nur Knochen und Nägel sah.
    ›Ich denke mir, daß es dir recht schlecht gehen mag, seit Nelson nicht mehr da ist‹, sagt sie.
    ›Rosig sieht es nicht gerade aus‹, sage ich, obwohl ihre bloße Gegenwart mich erschauern läßt und obwohl sie während des ganzen Gesprächs nicht den Schleier hebt.
    ›Nun, Fevvers, ich habe dir ein Angebot zu machen‹, sagt sie. Und sie nennt mir eine Zahl, die mir den Atem verschlägt.
    ›Und nichts zu tun dabei, sei nur ganz beruhigt!‹ sagt sie zu mir. ›Nicht, bis du willst, heißt das!‹ Mir ist nun klar, daß sie alles über mich gehört hat, wie ich Mutter Nelsons Flaggschiff war, aber mich nie an der Schlacht beteiligt habe; daß Nelson mich nie zur Schlachtbank geführt hat, so daß mich der ganze Londoner Untergrund als die Jungfräuliche Hure kannte.
    ›Ich will dich für mein Museum weiblicher Monstrositäten haben‹, sagt sie. ›Laß dir Zeit für deine Entscheidung.‹ Im Aufstehen legt sie ihre Karte auf den Kaminsims, und dann geht sie, und als ich ihr aus der Ladentür hinterherschaue, sehe ich ihre kleine altmodische Kutsche, von allen Seiten geschlossen, von einem kleinen schwarzen Pony gezogen und auf dem Kutschbock ein Schwarzer mit einer traurigen Eigenart: Er war ohne Mund geboren. Dann verschlang sie der säuerliche braune Nebel, der vom Fluß aufstieg, aber ich hörte den Hufschlag, der auf die Chelsea Bridge zusteuerte, wenn ich auch die Räder nicht hören konnte, denn die waren aus Gummi.«
    »Es war die berühmte Madame Schreck«, sagte Lizzie tonlos, als sei die bloße Erwähnung des Namens für sich schon eine ausreichend schlechte Nachricht.
    Berühmt in der Tat; Walser wußte schon von ihrer Existenz, vage Gerüchte in Herrenklubs, über dem Cognac und den Zigarren, wobei der Name nie von dem gewöhnlichen Grinsen, den Rippenstößen, dem Lachgebrüll begleitet wurde, sondern von kargen, geflüsterten Andeutungen von etwas höchst Seltsamem, von merkwürdigen Offenbarungen, die einen hinter den dreifach verschlossenen Türen Unserer Lieben Frau der Furcht begrüßten, hinter Türen, die sich nur widerwillig mit einem lauten Gerassel von Ketten und Riegeln öffneten, und dann mit einem langen Stöhnen wie verzweifelnd sich wieder schlossen.
    »Madame Schreck«, schrieb Walser auf. Die Geschichte nahm eine makabere Wendung.
    »Ach, mein armes Mädchen!« rief Lizzie in einem Aufseufzen aus. »Wenn nur... wenn nur das Baby nicht noch kränker geworden wäre, und wenn Giannis Husten sich nicht entzündet hätte, daß er das Bett hüten mußte, wenn nur Isotta nicht so unglücklich die Treppe hinuntergefallen wäre, daß der Doktor schwor, sie müßte unbedingt drei Monate lang auf dem Küchensofa flach liegen... Ach, Mr. Walser, die Schmerzenslitanei des Unglücks der Armen ist eine lange Reihe von ›wenn nur’ s‹.«
    »Hätten die Arztrechnungen nicht in diesem Winter unsere ganzen Ersparnisse aufgezehrt, und dann die Aktivitäten des Sonderkommandos -«
    Diesmal war es Lizzie, die hart gegen Fevvers’ Knöchel trat; die kam bei ihrer Erzählung keinen Augenblick aus dem Takt und fuhr glatt mit etwas anderem fort.
    »Und die Kleinen, was für ein Schicksal - langsam verhungern! Ach, wenn unser Haushalt nicht durch diese Serie unvorhersehbarer Katastrophen überwältigt worden wäre, die arme Leute wie unsereinen in den Abgrund des Elends stoßen, ohne eigene Schuld -«
    »›Tu’s nicht, Fevvers!‹ hat unser Gianni sie angefleht, aber dann hat er Blut gespuckt.«
    »So bin ich eines Morgens aufgestanden, ehe noch das Haus erwacht war, als niemand mich hindern konnte, zu gehen; ich

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