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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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zurückdenken konnte, geöffnet worden, noch konnte sich auch nur eine von den anderen Mädchen daran erinnern, wann diese Vorhänge das letzte Mal zurückgezogen worden waren, denn mit diesem Stoff war die künstliche Nacht der Lust erzeugt worden, die die immerwährende Jahreszeit des Salons gewesen war. Da nun aber die Zeremonienmeisterin ins Dunkel gegangen war, schien es nur ordentlich und angemessen, das Zimmer dem normalen Tage zurückzugeben.
    So warfen wir die Vorhänge zurück, und die Läden auch, und dann das hohe Fenster, das sich auf den melancholischen Fluß öffnete, von dem ein kühler, aber erfrischender Wind herüberdrang.
    Es war das kalte Licht der Morgendämmerung, und wie traurig, wie mitleidlos erleuchtete es den Raum, den trügerische Kerzen so herrlich hatten erscheinen lassen! Wir sahen nun, was wir nie zuvor gesehen hatten: wie die Motten die Polster zerfressen hatten, die Mäuse die Perserteppiche benagt, und wie der Staub die Stukkatur verschmiert hat. Der Luxus des Ortes war nur eine Illusion gewesen, geschaffen von den mitternächtlichen Kerzen, und beim Licht des Morgens war alles verdorrt und zerfallen. Wir sahen die feuchten Flecken und den Schimmel an der Decke und auf dem Damast der Wände; die Vergoldung der Spiegel war fleckig und trüb, und ein dünner Staubfilm verdunkelte das Spiegelglas, daß wir beim Hineinsehen nicht die frischen jungen Frauen erblickten, die wir waren, sondern die alten Vetteln, die wir einst sein würden, und wußten, daß wir so sterblich waren wie die Lust endlich.
    Da begriffen wir, daß das Haus für uns seinen Dienst getan hatte, denn das Zimmer selbst fing an, vor unseren Augen zu flackern und zu verschwinden. Selbst die Massivität der Sofas schien nun fragwürdig, denn sie und die schweren Ledersessel hatten nun das zweifelhafte Aussehen eines aus Rauch geformten Mobiliars.
    ›Hört her!‹ rief Esmeralda, niemals lange melancholisch. ›Wie wär’s, wenn wir dem guten alten Mädchen einen Scheiterhaufen anzünden wie einst den Heidenkönigen, und gleichzeitig dem Herrn Reverend seine Erbschaft versalzen!‹
    Und sie rennt in die Küche hinaus und kommt mit einem Kanister Petroleum zurück. Wir tragen alle eilig unseren ganzen Kram auf den Rasen hinaus und stellen ihn in sicherer Entfernung ab, und dann salben wir feierlich die Wände und Türen des alten Hauses mit Öl. Die Keller werden gut angefeuchtet, die verdammten Betten durchweicht, die Teppiche besprengt. Lizzie war die Haushälterin gewesen, und sie ließ sich den letzten Akt des Aufräumens nicht nehmen - sie entzündete das Streichholz.«
    »Ich hab geweint«, sagte Lizzie.
    »Wir Mädchen standen auf dem Rasen, und der Morgenwind vom Fluß schlug uns die Röcke um die Beine. Wir erschauerten - vor Kälte, vor Sorge, vor Traurigkeit über das Ende eines Teils unserer Leben und vor Begeisterung über unseren Neubeginn. Als das Feuer sich festgesetzt hatte, gingen wir im Gänsemarsch davon, den Weg am Flußufer entlang, bis wir zur Hauptstraße kamen und eine Reihe Kutschen mit schläfrigen Fahrern unter dem Tower fanden, die höchst zufrieden waren, zu dieser Morgenstunde schon Kundschaft zu sehen. Wir küßten uns und nahmen Abschied und gingen jede ihren eigenen Weg. Und so ging das erste Kapitel meines Lebens in Flammen auf, Sir.«

III
    »Was für eine lange Fahrt war das nach Battersea! Aber was für ein Willkommen dort, als die kleinen Nichten und Neffen vom Frühstückstisch aufsprangen und uns umarmten und Isotta lief, um frischen Kaffee aufzusetzen! Ein wenig altmodisches Familienleben kam uns beiden nicht ungelegen nach so langer Zeit anderer Lebensweise, und wir halfen im Geschäft mit - ich drehte morgens die Kurbel der Eismaschine, und Fevvers stand, diskret in ein Umschlagtuch gehüllt, hinter der Theke.«
    »Ene mene Eis am Stiel
    Schmeckt so gut und kost nicht viel -
    Ich liebe es, die kleinen Kinder um mich zu haben, Sir! Ihr Geplapper zu hören und wie die kleinen Stimmchen lispelnd ihre Verse singen! Ach, Sir - kann man sich einen unschuldigeren Beruf vorstellen, als gutes Eis zu bescheidenen Preisen an kleine Kinder zu verkaufen, wenn man so viele Jahre schmierigen alten Männern die Spezialität des Hauses verkauft hat? Jeder Tag in dem weißen, saubergescheuerten, glänzenden Eissalon war wie eine rituelle Reinigung! Glauben sie nicht, Sir, daß wir im Himmel alle nur noch Eis essen werden?« Fevvers lächelte engelsgleich, rülpste und unterbrach sich: »Sag

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