Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
Vom Netzwerk:
mal, Liz... gibt es eigentlich hier noch irgendwas zu essen? Ich bin wieder völlig ausgehungert. All das Gerede über mich selbst, Sir; Gotteswillen, das macht einen ganz schwach...«
    Lizzie schaute unter die Serviette, die den Korb bedeckte, fand aber nur das schmutzige Geschirr.
    »Will dir was sagen, mein Schatz«, sagte sie, »ich geh einfach rasch zum Standplatz am Piccadilly, da haben sie die ganze Nacht offen, ich bring ein paar Schinkenbrote mit, ja? Nein, Sir! Lassen Sie Ihr Geld stecken. Sind eingeladen.«
    Lizzie zog schnell eine Jacke aus grauem, beunruhigend anonymem Fell über ihr Kleid und spießte sich einen kuriosen, schweigsamen kleinen schwarzen Hut mit einer wilden Hutnadel auf den kurzgeschorenen Kopf. Sie war immer noch taufrisch. Beim Hinausgehen grinste sie Walser ostentativ-ironisch zu.
    Nun war Walser mit der Riesin allein.
    Die verstummte, wie schon das erste Mal, als Lizzie sie zusammen alleingelassen hatte, und wandte sich ab, um in die invertierte Welt ihres Spiegels zu blicken, wo sie eine Augenbraue glattstrich, als wäre es wesentlich für ihren Seelenfrieden, daß die Haare in makelloser Ordnung lagen. Dann - vielleicht in der Hoffnung, daß ihr Duft sie erfrischen würde - zog sie die triefenden Veilchen aus dem Marmeladenglas und vergrub ihr Gesicht in den Blüten. Wurde sie müde? Nachdem sie aus den Blumen aufgesogen hatte, was immer sie ihr geben konnten, gähnte sie.
    Aber nicht so, wie eine ermüdete Frau gähnt. Fevvers gähnte mit erstaunlicher Energie, öffnete einen roten Rachen von der Größe eines Haifischmauls, sog genügend Luft in sich ein, um eine Montgolfière in die Höhe schweben zu lassen, und dann streckte sie sich plötzlich groß aus, jeden Muskel ausspannend, wie eine Katze zu tun pflegt, bis es schien, sie wolle den ganzen Spiegel, den ganzen Raum mit ihrem Körper füllen. Als sie die Arme erhob, wurde es Walser beim Anblick ihrer dick gepuderten Achselhöhlen, wo die rasierten Haare stoppelig nachwuchsen, ganz schwach: Mein Gott! sie konnte ihn mit Leichtigkeit in ihren gewaltigen Armen erdrücken, wenn er auch ein starker, großer Mann war, mit der Kraft der kalifornischen Sonne in seinen Gliedmaßen. Eine erotische Unruhe durchschüttelte ihn konvulsivisch -wenn es nicht der verdammte Champagner war. Er stolperte in plötzlicher Panik auf die Füße, Unterwäsche verstreuend, sich die Kopfhaut schmerzhaft am Kaminsims kratzend.
    »Autsch - Sie verzeihen, Ma’am - ein Bedürfnis -«
    Wenn er nun einen Augenblick aus ihrem Zimmer herauskonnte, wenn er - sei es für noch so kurze Zeit - allein in dem kalten schmutzigen Gang stehen durfte, der von ihrer Gegenwart hinwegführte, wenn er seine Lungen nur einmal mit einer Luft füllen konnte, die nicht bis zum Ersticken mit »Fevvers-Essenz« gesättigt war, dann würde er vielleicht den Sinn für normale Verhältnisse wiedererlangen.
    »Pinkeln Sie in den Topf hinter dem Wandschirm, Süßer. Nur zu. Wir sind hier nicht förmlich.«
    »Aber -«
    »NUR ZU.«
    Es sah so aus, als dürfe er den Raum nicht verlassen, bis sie und ihr dienstbarer Geist mit ihm fertig waren. So schritt er gehorsam hinter den Wandschirm, um den bräunlichen Bogen aus exzessiv genossenem Champagner in den weißen Porzellantopf zu richten, wie befohlen. Dieser Vorgang, diese elementarste menschliche Handlung holte ihn wieder auf den Erdboden zurück, denn das Pissen enthält keinerlei metaphysisches Element, zumindest nicht in unserer Kultur. Als er seine Hose zuknöpfte, stellte sich das Gefühl des Gewöhnlich-Irdischen um ihn wieder her. Die Garderobe zischte plötzlich förmlich vom salzig-würzigen Geruch gebratenen Schinkens, und eine Hand mit der braunen Teekanne tauchte an der Kante des Wandschirms auf und kippte den kalten Teerest in Fevvers’ schmutziges Badewasser, auf dessen häutiger grauer Oberfläche bereits die letzte Ladung Teeblätter trieb. Als er hinter dem Wandschirm hervortrat, stand die Korridortür offen, und ein willkommener Luftzug mengte sich frisch in die dicke alte Luft. Im Zimmer hallte die Melodie laufenden Wassers und das Klingen der Leitungsröhren, als Lizzie den Kessel wieder am Wasserhahn auf dem Gang füllte. Walser seufzte beruhigt.
    »Hören Sie!« sagte Fevvers und hob die Hand.
    Auf der lautlosen Nachtluft kam die Melodie von Big Ben herüber. Lizzie knallte die Tür, als sie zurückkam, und stellte den Kessel auf den sausenden Kocher. Die Flammen, mauve und orange, zuckten und

Weitere Kostenlose Bücher