Nächte im Zirkus
anders als Dornröschen?
Ich war so müde, so zerrupft, so hungrig und so erregt von meiner schlimmen Erfahrung, daß ich zusammenbrach und weinte, als für mich kein Raum mehr in der Herberge war, und Lizzie wachte auf.«
»Und hab ich mich vielleicht gefreut, sie zu sehen! Denn Toussaint hatte uns alles erzählt, und wir hatten das Schlimmste befürchtet. Unser Haus war bis unters Dach mit den Flüchtlingen aus dem Hause von Madame Schreck vollgepfropft, und wenn Fevvers uns nun eine Geschichte zu erzählen hatte, oh!, was hatten wir für eine zu berichten! Ich machte ihr eine schöne Tasse Kaffee mit Milch, und sie bekam ein paar weiche Eier und Toast, und bald lächelte sie wieder. Was Toussaints Rolle in dieser kaum glaublichen Geschichte betrifft, Sir, so hat er alles auf ein Stück Papier geschrieben, das ich glücklicherweise in meiner Handtasche bei mir habe.«
Drauf grub Lizzie drei makellose Manuskriptseiten aus ihrer Tasche hervor (geschrieben auf Rechnungsformularen eines Eissalons); der Text lautete:
Nachdem die Männer gekommen waren und Sophia entführt hatten, war ich sehr beunruhigt und wäre ihnen gefolgt, hätte sich nicht die Kutsche zu rasch meinem Blick entzogen. Ich kehrte in das Haus zurück und ging in Madame Schrecks Zimmer. Obwohl die Witwenkleider noch von der Gardinenstange hingen, waren sie nun reglos. Sie bewegte sich nicht.
Der Gedanke kam mir, daß nichts mehr in den Kleidern geblieben sein mochte und daß vielleicht nie etwas in den Kleidern gesteckt hatte als ein paar vertrocknete Knochen, bewegt nur durch die Kraft eines infernalischen Willens, und eine Stimme, die nicht mehr gewesen war als der künstliche Ausstoß von Luft aus einer Blase oder einem Sack; daß sie nichts gewesen war - oder doch schließlich zu nichts anderem geworden war - als eine Art Vogelscheuche der Begierde. Ich stieg auf einen Stuhl und hob sie herunter. Sie war ohne Gewicht, wie ein leerer Korb, und ihre Handschuhe fielen mit einem weichen Klatschen auf den Boden. Ein wenig Staub sickerte aus den abgeschnittenen Fingern. Ich legte die Trauerkleider auf das Bett: Sie waren starr und trocken wie der abgestreifte Panzer eines Insekts.
Auf dem Schreibtisch lag ein Kaufvertrag. Sie hatte Fevvers an diesen Mr. Rosencreutz verkauft, nicht für zwei-, sondern für fünftausend Pfund, die Hälfte bei Vertragsabschluß direkt an Madame Schreck zu zahlen, der Rest... »nachher« an sie zu erstatten. (Alles, was man Fevvers gesagt hatte, war gelogen.) Dies »nachher« gefiel mir durchaus nicht, doch fand ich mich völlig hilflos vor der Frage, was nun zu tun sei. Ich wußte, daß ich der stumme Zeuge infamer Handlungen gewesen war, doch würde mir die Polizei glauben, daß ich, der letzte, der Madame Schreck lebend gesehen hatte, der erste gewesen war, der sie dann fand - nicht tot, denn wer kann jetzt sagen, wann sie gestorben ist, oder ob sie je gelebt hat, aber... dahingegangen? Und wer wußte besser als ich, welch mächtige Freunde die alte Kupplerin bei der Polizei besaß, da mir jeden Freitag, seit ich in ihre Dienste getreten war, die Aufgabe zugefallen war, einen gewichtigen Briefumschlag persönlich auf der Polizeiwache von Kensington abzugeben, mit strikter Anweisung, nicht auf eine Quittung zu warten?
Fanny half mir mit ihrer Stärke. Aus Madame Schrecks offenem Safe nahm sie das Geld, das Fevvers geschuldet war, und darauf - nach einigen Berechnungen - eine Summe, die ausreichte, die restlichen fünf, Dornröschen eingeschlossen, zu entschädigen für die Mühen, die sie an diesem elenden Ort erduldet hatten - keinen Penny mehr, keinen weniger. Nachdem sie ehrlich mit Madame Schrecks Nachlaß abgeschlossen hatte, sagte sie: »Und jetzt verschwinden wir ganz rasch, oder wir machen uns noch der Beihilfe zur Tat schuldig.«
»Welcher Tat?« fragte ich voller Furcht. Doch wir konnten nichts tun als zu beten, daß Fevvers’ Klugheit und Phantasie sie vor Schaden bewahren würden. Als Zufluchtsort für uns Freundlose fiel mir nur die Adresse ein, die Fevvers selbst mir einmal gegeben hatte - jene, wohin ich das erste und einzige Geld gebracht hatte, das Madame Schreck ihr gab. Wir mußten uns entfernen, und zwar rasch, ehe die ersten Klienten der Nacht eintreffen würden.
Ich trug selbst das Dornröschen zu Madame Schrecks Kutsche in dem Stall im Hof. Ich würde als den mir zustehenden Teil den Wagen und das Pony nehmen; verdiente es der Sklave nicht, die Mittel zur Flucht als Erbteil zu erhalten?
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