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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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Wir kamen eben nach Mitternacht in Battersea an, und diese freundlichen Leute standen aus ihren Betten auf, um uns ein gastfreundliches Willkommen zu bereiten, trotz ihrer Aufregung, als sie vom Verschwinden ihres geliebten Mädchens erfuhren, und Isotta suchte für uns alle Matratzen, Decken und Lagerstätten zusammen.
    Der nächste Tag schien uns endlos, wir waren in einem Zustand sich stündlich steigernder Erregung und warteten auf Nachricht von unserer schönen Freundin. Erst nach langen durchwachten Nachtstunden legte sich das Haus schließlich zu unruhigem Schlaf nieder, als sie dann wunderbarerweise zurückkehrte.

    Walser las dieses Dokument, betrachtete die Gelehrtenhandschrift, die sichere Signatur, die nur allzuleicht überprüfbare Adresse. Er reichte es mit ergebener Bescheidenheit an Lizzie zurück. Sie verstaute es wieder, mit einem wohlgefälligen Nicken.
    »Der Toussaint!« sagte sie. »Der kann mit Worten umgehen.«
    »Was ist aus ihnen allen geworden, Sir?« fragte Fevvers und antwortete sich selbst sogleich: »Sie sind alle ihrer Wege gegangen! Isotta und Gianni, selbst die liebevollsten Eltern, haben das Wunder überredet, daß kein Kind so tief sinken kann, daß eine Mutter oder ein Vater sich nicht hinabbeugen würde, es wieder aufzuheben, und so ging sie zurück zu ihren Adoptiveltern, die vor Freude weinten, sie nach so vielen Jahren in den Schoß der Familie zurückgekehrt zu sehen, nachdem alle anderen Kleinen schon lange ausgeflogen waren. Albert/Albertina fand eine Stelle als Kammerzofe bei unserer reichen Jenny, obwohl er/sie sagt, das ständige Tragen von Frauenkleidern enge ihn/sie doch sehr ein, mag Jenny ihren Schatz nicht mehr missen. Fanny ging in ihre Heimat nach Yorkshire zurück, wo sie mit dem Geld von Madame Schreck in einer Fabrikstadt ein Waisenhaus für die Kinder von Arbeitern einrichtete, die bei Unfällen an den Spinnmaschinen ums Leben gekommen waren, und so hat sie nun zwanzig liebe Kinderchen, die ›Mama‹ zu ihr sagen. Glücklicherweise konnte ich, nachdem ich meine Karriere gemacht habe, einen guten Freund für das Schicksal von Spinnweb interessieren, den Akademiemaler Sir R-F--. Er erkannte ihren einzigartigen Blick und lehrte ihre Hand, dem Blick zu folgen. Nun hat sie einen bedeutenden Ruf als Chiaroscuro-Malerin, so daß man sagen könnte, daß sie zwar immer noch im Schatten lebt, jedoch nun auch von den Schatten leben kann. Und das Dornröschen -«
    »- die ist immer noch bei uns.«
    Pause, drei Herzschläge lang.
    »Sie schläft. Und jeden Tag wacht sie nun ein klein wenig kürzer auf. Und Tag für Tag nimmt sie ein bißchen weniger Nahrung zu sich, als reue sie der kürzeste Augenblick des Wachens, denn nach den Bewegungen unter ihren Lidern zu schließen und nach den Gesten ihrer Hände und Füße im Schlaf, scheint es, als würden ihre Träume immer dringlicher und intensiver, als wolle das Leben, das sie in der abgeschlossenen Welt des Traumes führt, sie nun ganz in Besitz nehmen, als wären ihre kleinen, immer widerwilliger ertragenen Wachzeiten Unterbrechungen einer wesentlicheren Existenz, so daß sie ungern selbst die paar notwendigen Momente des Wachens mit uns verbringt, eines Erwachens so seltsam wie ihr Schlaf. Ihr wunderliches Schicksal - ein Schlaf, lebendiger als das Leben, ein Traum, der die Welt verzehrt. Und, Sir«, fuhr Fevvers fort, mit einer Stimme, die nun den ernsten, majestätischen Klang einer großen Orgel annahm, »wir glauben, daß ihr Traum... das kommende Jahrhundert sein wird.
    Und, o Gott... wie oft sie weint!«
    Es folgte eine tiefe Stille, in der die Frauen sich bei den Händen hielten, wie zum Trost, und Walser erschauerte, denn die Garderobe war nun kalt wie der Tod.
    Dann trieb auf der lautlosen Nachtluft wieder der Klang von Big Ben zu ihnen herüber, aber der Wind mußte sich etwas gedreht haben, denn die ersten Schläge waren schwach, wie von ferne, und als sie sie hörte, erstarrte Fevvers und »stand« wie ein großer goldhaariger Jagdhund. Sie schob die Nase in die Höhe, als schnüffle sie die Witterung der Luft ein; die Nackenmuskeln spannten sich und spielten. Eins, zwei, drei, vier, fünf... sechs...
    Während des winzigen, unmeßbar geringen Zeitraums, in dem der letzte Schlag erstarb, entstand ein schwindelndes Gefühl, als stürzten Walser und seine Gefährtinnen und die ganze Garderobe selbst auf einmal einen großen Schacht hinunter. Als hätte der Raum, der ohne Walsers Wissen auf irgendeine Art aus

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