Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
Vom Netzwerk:
schwarzes Tuch gewickelt, mit einem Gesicht, in dem sich die großen Knochen scharf abzeichneten, dunkle Flecken unter jenen blauen Augen, das lange Haar achtlos wieder aufgesteckt - wie irgendein Straßenmädchen, das nach einer erfolglosen Nacht nach Hause zieht, oder gar wie eine Lumpensammlerin, die die schmerzlich zusammengescharrte Beute einer Nacht auf dem Rücken in einem Sack heimträgt: die enorme Last, die zwischen ihren Schultern hervorragte, die sie nach unten zu beugen schien. Sie funkelte noch einmal auf, für den alten Pförtner theatralische Lebhaftigkeit imitierend: »Ich seh dich dann, alter Schlawiner!« Aber den Arm, den Walser ihr bot, lehnte sie ab, und sie gingen schweigend durch Piccadilly, zwischen den Frühaufstehern auf ihrem Weg zur Arbeit hindurch. Sie gingen um die Nelsonsäule, Whitehall hinunter. Die kalte Luft wurde durch den Morgen nicht frischer; es herrschte ein bedrückender Geruch nach Ruß und Pferdescheiße.
    Am Ende von Whitehall, die breite Straße entlang, an der Mutter der Parlamente vorüber kam in raschem Trott ein Kohlenwagen, von klappernden, klingelnden Gäulen gezogen, und hinterher eine rasch zusammengeströmte Prozession von Frauen der ärmsten Klasse, ohne Mäntel oder Umschlagtücher, in Baumwollschürzen, in struppigen Unterröcken, abgetragene Hausschuhe an den bloßen Füßen, auch kleine Kinder ohne Schuhe, alle rannten und stolperten hinter dem Karren her, die Mädchen und Frauen mit ausgestreckten Schürzen, um jedes kleinste Kohlenbröckchen aufzufangen, das herunterfallen mochte.
    »O mein London!« sagte Fevvers. »Die leuchtende Stadt! Das neue Jerusalem!«
    Sie sprach so tonlos, daß er nicht erkennen konnte, ob sie es ironisch sagte. Sonst sagte sie nichts. Dies Schweigen nach solcher Beredsamkeit faszinierte Walser: Es war, als hätte sie ihn auf der dreisten Flugbahn ihrer stählern klingenden Stimme so weit geführt, wie sie konnte, ihn mit dem Garn ihrer Erzählung umknotet, und dann - innegehalten. Ihn fallengelassen.
    Über dem leuchtenden Filigran des Parlaments deuteten die vergoldeten Zeiger von Big Ben auf fünf Minuten vor sieben. Beide Frauen schauten zum Zifferblatt empor und lächelten ein rasches, kleines Komplizenlächeln, dessen matten Schluß Walser bekam, als sie sich zu ihm wandte, um ihm die Hand zu schütteln. Ein kräftiger, fester, maskuliner Händedruck. Keine Handschuhe.
    »Es war mir ein Vergnügen, Mr. Walser«, sagte sie. »Ich hoffe, Sie haben genug für Ihre Arbeit. Wenn Sie noch weitere Fragen haben, wissen Sie, wo Sie mich treffen. Von hier aus finden wir leicht allein nach Hause.«
    »Es war mir ein Vergnügen«, stimmte Lizzie mit einer seltsamen, zusammenknickenden kleinen Verneigung ein und reichte ihm einen Glacehandschuh.
    »Das Vergnügen war ganz auf meiner Seite«, sagte Walser.
    Der Minutenzeiger der großen Uhr über ihnen kroch über das Zifferblatt. Die Frauen brachen über die Westminster Bridge auf, in den verqualmten Süden Londons, gegen den ratternden Verkehr, der nun in die Stadt hineinströmte. Wegen des Größenunterschieds konnten sie nicht Arm in Arm gehen, und so hielten sie sich an den Händen, daß es von ferne aussah, als hole eine blonde heroische Mutter ihre kleine Tochter von einer unglücklich verlaufenen Expedition ins Westend zurück nach Hause - die Alter verwischt, die Beziehung verkehrt. Ihre Füße schleppten sich langsam dahin wie die Armut, doch auch das war eine Illusion: Mit Diamanten beworfen, mit Perlen überschüttet, war sie zu geizig, einen Wagen zu nehmen.
    Die Uhr hustete den rasselnden Vorlauf zu ihrem Geläut, und dann erklang die Melodie, welche dem Stundenschlag vorausging. Als der Wind plötzlich Fevvers’ Haar packte, es aus den Nadeln riß und in einem hohen flachsblonden Bogen über den düsteren Fluß wehen ließ, erwartete er beinahe, daß sie selbst sich entfalten würde, ganz scharlachrotes Gefieder, und daß sie ihre kleine sorglich geführte Tochter, ihre Mutter, an die Brust ziehen und mit ihr hinauf zu den niedrigen Wolken wirbeln würde, hinauf und hinweg. Er schüttelte den Kopf, um sich die Flausen zu vertreiben.
    Es schlug sieben. Nun so groß wie eine große Puppe, eine kleine Puppe, hatten sie das andere Ende der Brücke erreicht und blickten zurück; er sah die blassen Flecke ihrer Gesichter. Dann verdeckte sie der Verkehr.
    »Droschke, Sir?« Das wartende Pferd blies schnaubend eine Fontäne Hafer über den Rand des Futterbeutels.

    In seinem

Weitere Kostenlose Bücher