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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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es mir unmöglich vorstellen. Und da wäre ich in einer schönen Situation gewesen, mitten in unbekanntem Gelände, splitternackt, von Baum zu Baum mich weiterduckend wie ein gottverdammter Hund, den ganzen Weg bis nach Battersea!
    Ich muß auch sagen, daß ich die freie Landschaft hasse und fürchte. Ich bin nicht gerne dort, wo keine Menschen sind, muß ich Ihnen offen sagen. Ich liebe den Anblick, den Gestank, das Gewirr der Menschen, und eine Landschaft ohne Menschen, ohne freundlichen Rauch aus dem Schornstein irgendeiner menschlichen Behausung, ist für mich wie eine Wüste. Nicht daß ich je besonders viel Zeit in Wald und Flur verbracht hätte, Gott sei Dank, aber manchmal zu Mutter Nelsons Zeiten hat sie uns an einem Feiertag im August alle in einen Landauer gepackt, und wir sind zum Picknicken in den New Forest gefahren, und ich war immer von Herzen froh, wenn ich wieder in der Whitechapel High Street angekommen war, denn da hab ich freier geatmet - Cockney bis auf die Knochen, Sir!
    Außerdem, Sir, bin ich eine ehrenhafte Frau. Und der arme alte Idiot hatte schließlich pünktlich bezahlt, nicht wahr, wenn ich auch bis jetzt nichts von dem Geld zu sehen bekommen hatte. Aber ich machte mir große Hoffnungen auf die Tausend bei Vertragserfüllung, plus die Hunderterprämie, die er mir versprochen hatte. Ach, ich hatte mir bereits eins von diesen schönen großen Häusern am Lavender Hill gekauft und es für Gianni und Isotta und Violetta und Lizzie und mich und den Rest unserer Familie dort hübsch gemütlich eingerichtet.
    Es war die verlockende Aussicht auf Bargeld, die mich dort festhielt, und außerdem dachte ich mir, na, mit dem alten Esel hast du keine großen Schwierigkeiten, wenn’s Ernst wird, denn er sah mir ganz aus wie einer, bei dem es schnell geht und kommt. Und in meiner Unschuld dachte ich an ein schlimmeres Schicksal als an dieses nicht - gar nicht!
    So verging die Zeit, wie sie es manchmal tut, er brabbelte vor sich hin, bis die Butzenscheiben blasser und heller wurden. Da brach es aus ihm heraus, er stimmte ein Lied an:
    ›Vereinigt euch! Oh, vereinigt euch alle!
    Denn heute ist uns der Sommer bescheret.‹
    Und er springt auf, dreht das Licht aus, wirft die Fensterläden zurück. Ein leichter Frühlingswind, noch ein wenig kühl, bläst ins Zimmer, und ich weichherziges Dummchen mach mir um seine ältliche Gesundheit Gedanken.
    ›Passen Sie auf Ihren bloßen Kopf auf, oder Sie holen sich den Tod!‹
    Dieses Wort, ›Tod‹, hatte eine elektrisierende Wirkung auf ihn; er schrie auf und wieherte, krähte und brüllte, wobei er sich am Fensterrahmen festklammerte, als ob er ohne diesen Halt schlaff zu Boden fallen müßte, doch der krampfartige Anfall war bald vorbei, und er rief mit schwankender Stimme:
    ›O meine Verjüngerin! Die befruchtende Sonnenscheibe streift eben zuhinterst jenes Hügels empor! Leg dich auf den Altar!‹
    Mr. Walser, Sir, so verlegen es mich macht, dies einem Mann auseinanderzusetzen, ich bin zwar intacta, wußte jedoch genug, daß mir klar war: würde ich mich auf den Rücken legen, würde es mir nicht nur keine Freude bereiten, der Versuch einer Verbindung auf diese Weise würde auch zu einem Chaos führen wie ein Ringkampf in einer Daunenkissenfabrik.
    ›Ihr dürft mich nur von hinten berühren, o großer Weiser, wegen meiner Federn!‹ warnte ich ihn hastig, obwohl mir gleichzeitig durch den Kopf geht, wie sehr er diese Öffnung verabscheut, und schon da, wie in einer blitzartigen Erkenntnis, kommt es mir, daß seine Vorstellung von Sexualmagie und die meine möglicherweise nicht übereinstimmen.
    ›Kümmere dich nicht darum!‹ rief er in seinem Wahn. ›Leg du dich nur hin!‹
    Er kommt wieder zu mir her gehüpft und räumt den Tisch, auf dem mein Abendessen serviert worden war, mit einem Schwung seines hageren Armes ab, daß Buch und Rosen zu Boden stürzen. Und doch war trotz all des heiligen Schreckens seiner Züge in seinem blauangelaufenen Gesicht noch etwas anderes, das ich da sah, etwas, was mich entsetzlich beunruhigte, denn es war genau jener Ausdruck entschlossener Unartigkeit, den ich im Gesicht meiner Patentochter Violetta ertappt habe, wenn sie gerade dabei ist, ihre Finger in die verbotenen Herrlichkeiten des Schokoladeneises zu stecken. Und dann denke ich: Dieser Mann wird mir ein Leid tun.
    Als er den Schatten des zögernden Widerwillens auf meinem Gesicht sieht, faßt er sich etwas und wappnet sich mit der ganzen Autorität eines

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