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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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Industriemagnaten, indem er wiederholt:
    ›Leg dich auf den Altar!‹
    Verwundert und nachdenklich strecke ich mich mit dem Gesicht nach unten auf dem Eßtisch aus. Er nähert sich mit entschlossenem Schritt. Ich hätte die Zähne zusammengebissen und an England gedacht, hätte ich nicht bei einem Blick über meine Schulter ein glänzendes Etwas gesehen, das seinen haarigen hageren alten Schenkel entlanghing, als die Robe aufglitt. Dies Etwas war wesentlich aggressiver anzusehen als seine andere Waffe, das arme Dingelchen, das ungeladen, ungefüllt, ungeschärft umherbaumelte... im kalten, grauen Licht des Maienmorgens sah ich, daß dieses Etwas - eine Klinge war.
    Blitzschnell zog ich meine eigene Waffe! Wie ich mir mein kleines vergoldetes Schwert lobte! Er wich zurück, plappernd: Unfair, unfair... er hatte nicht gedacht, daß der Engel bewaffnet kommen würde. Und doch, Sir, zustoßen konnte ich nicht und ein anderes sterbliches Menschenwesen verletzen, nicht einmal zu meiner Verteidigung... und offen gesagt fand ich es selbst in meiner großen unruhigen Verwirrung wahnsinnig komisch, zu beobachten, wie der arme alte Dummkopf völlig durcheinander war, daß seine Pläne schiefgingen, und er war ebenso hilflos, als ich ihm ins Gesicht lachte, wie beim Anblick des Spielzeugs von Mutter Nelson.
    Ehe er sich noch fassen konnte, war ich wie der Blitz aus dem offenen Fenster, zwischen den zurückgeworfenen Läden hindurch, hinaus ins Freie. Obwohl es eng war, kann ich Ihnen sagen, und ich am Fensterrahmen genügend Federn ließ, daß man eine ganze Matratze damit hätte stopfen können. Der arme Irre stößt ein schrilles, quiekendes Kreischen aus, als er seine fleischliche Flasche voll elixum vitae entschwinden sieht, und erst jetzt kam er hinter mir her mit dem, was sich als ein alter Speer herausstellte, den er irgendwo gefunden hatte, und es gelang ihm sogar, mir am rechten Ballen eine Wunde zu versetzen, von der ich noch heute die Narbe trage -sehen Sie hier!«
    Sie zog den einen Fuß aus dem Slipper und schob ihn auf Walsers Knie, wobei sein Notizbuch zu Boden fiel. Quer über die Sohle lief eine blasse, zusammengekniffene Naht durch das Fleisch.
    »Augenschein«, sagte Lizzie, die ein Gähnen unterdrücken mußte. »Was man sieht, muß man glauben.«
    Walser holte sich mit schwachen Bewegungen sein Notizbuch zurück.
    »Von dem Sprung in die Höhe, am Vorabend in Madame Schrecks Schlafzimmer, einmal abgesehen, hatte ich meine Flügel glatt ein halbes Jahr nicht mehr eingesetzt, aber die Angst gab mir übermenschliche Kräfte. Ich stieg hoch, weg, fort von diesem bösen Ort, flog über den Maibaum auf dem Rasen vor dem Haus hinweg, dem sich gerade in diesem Moment ein Trupp Kinder näherte, die er im Dorf angeworben haben mußte; sie trotteten trotz des leichten Regenschauers in dünnen Gazegewändern herbei, mit Kränzen aus Gänseblümchen im Haar, bereit, für den schrecklich erfrischten Adepten zu tanzen und zu singen, der mich als Maiopfer haben wollte, Sir.
    Sie stoben alle voll Angst auseinander und schrien nach ihren Mamas, als ich vorbeiflog.
    Ich suchte in einem kleinen Wäldchen in der Nähe Zuflucht, in den hohen Ästen einer Ulme, wo ich eine schläfrige Schar Krähen aufstörte. Als ich wieder ruhiger atmen konnte, spähte ich hinaus, um zu sehen, was vor sich ging, und sah Mr. Rosencreutz’ Grobiane, nun als Wildhüter gekleidet, das Unterholz nach mir durchsuchen; also blieb ich, wo ich war, bis es wieder dunkel wurde. Dann flog ich vorsichtig von einer Baumgruppe zur anderen, mich stets verbergend, bis ich zur Eisenbahnlinie kam und auf einem Güterzug mitreiste - ich kletterte zu einer Ladung Kartoffeln und zog mir die Plane über den Kopf, weil ich zu dieser Zeit noch nicht so hoch fliegen konnte, daß die Wolken mich verdeckt hätten, und ich kann mir kaum etwas Auffälligeres vorstellen (selbst bei Nacht) als eine nackte Frau, die dahinfliegt und versucht, den Telegraphendrähten auszuweichen, und über Streckenwärterhäuschen hinwegflattert - denn ich mußte der Eisenbahn folgen, um nach London zurückzufinden. Zu meiner großen Freude dampfte der Zug bald durch Clapham Junction, und ich schlüpfte gerade auf der Höhe des Batterseaparks hinaus, um so geschwind wie möglich durch das leere Dunkel die Queenstown Road hinaufzueilen, mich immer wieder hinter den Vorgartenhecken versteckend, bis ich glücklich daheim landete.
    Und wen finde ich da in meinem eigenen Bett neben Lizzie - wen

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