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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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dem alltäglichen Zeitkontinuum herausgenommen worden war, eine Zeitlang über der dahin wirbelnden Welt gehangen und würde nun - fallengelassen, zurück an seinen Platz.
    »Sechs Uhr! Schon so spät!« rief Lizzie und sprang mit erneuerter Energie auf. Doch Fevvers schien völlig überwältigt, erschöpft bis zum Zusammenbrechen, ganz plötzlich, wie vom Nachlassen eines gewaltigen Kraftfeldes. Ihre Brust flatterte, als wollte ihr Herz hervorfliegen. Ihr schwerer Kopf hing herab wie eine Glocke, die aufgehört hat, zu schlagen. Sie schien sogar von geringerem Umfang zu sein, zusammengeschrumpft auf Ausmaße, die nur ein klein wenig kolossaler waren als die gewöhnlich-menschlichen. Sie schloß die Augen und stieß mit einem langgezogenen Aufseufzen den Atem aus. Die Farbe wich aus ihren Wangen, und sie sah verfallen und stark gealtert aus im farblosen Licht des Morgens, welches das lila Glühen der Gaslampen leblos und unnatürlich erscheinen ließ. Es blieb Lizzie überlassen, die Geschichte zu Ende zu führen, was sie rasch und geschäftig tat.
    »Nach unserem frohen Wiedersehen«, begann sie knapp, »als wir nun alle noch am Frühstückstisch saßen, obwohl wir schon lange fertig waren, wer kommt zu einem Besuch vorbei - Esmeralda und der Menschliche Aal mit einer kleinen Aalraupe im Kinderwagen. ›Sag mal, Fevvers‹, meint sie, ›hast du schon mal ans Trapez gedacht?‹«
    Dann hüpfte Lizzie von ihrem Stuhl, fing an, die Unterwäsche auf dem Sofa zu ordnen und zu falten; sie entließ Walser mit diesem Signal. Fevvers aber regte sich ein wenig. Sie sah Walser im Spiegel an, fügte müde noch eine Coda hinzu.
    »Der Rest ist Geschichte. Esmeralda verschaffte mir das erste Engagement im Cirque d’Hiver. Ich hatte mich kaum aufs Trapez gewagt, als ich schon Triumphe feierte. Paris, Berlin, Rom, Wien... und jetzt mein eigenes geliebtes London. Am ersten Abend hier im Alhambra, nachdem ich über einen Berg von Blumensträußen von der Bühne geklettert bin, als Lizzie mir die Schminke runtermacht - gerade so, wie Sie uns hier gefunden haben -, klopft es an der Tür. Und da steht ein Mann mit einem flachen runden Hut und einer Weste über seinem Wanst, die aus der amerikanischen Flagge gemacht ist, die guten Stars und Stripes persönlich, Sir, und direkt über dem Nabel ein verdammt großes Dollarzeichen.
    ›Hallo, meine kleine gefiederte Freundin!‹ sagt er, ›ich bin hier, um dich reich zu machen!‹«
    Sie gähnte, nicht wie ein Wal, nicht wie eine Löwin, wie ein Mädchen, das zu lange aufgeblieben ist.
    »Und so werde ich zweifellos bald in Sankt Petersburg Triumphe feiern, in Tokio, in Seattle, in San Francisco, Chicago, New York - wo immer ein Dachbalken hoch genug für mein Trapez sich findet, Sir. Wenn Sie jetzt mit allem zu Ende sind -«
    Walser klappte sein Notizbuch zu. Es war kein Platz mehr, nicht für ein einziges Wort.
    »Das bin ich. Sehr gut, Miss Sophie, ausgezeichnet.«
    »Fevvers«, korrigierte sie ihn scharf. »Nennen Sie mich Fevvers. Und jetzt müssen Lizzie und ich heim und ins Bett.«
    »Kann ich Ihnen einen Wagen rufen?«
    »Um Himmelswillen! Gutes Geld für eine Droschke hinauswerfen? Wir gehen immer nach der Show zu Fuß nach Hause.«
    Aber sie schwankte ein wenig, als sie aufstand. Die Nacht hatte ihren Tribut gefordert. Sie tauschte eine letzte unergründliche Grimasse mit ihrem verzerrten Spiegelbild.
    »Entschuldigen Sie mich, Sir, ich muß mir was anziehen.«
    »Ich werde am Bühneneingang warten, Ma’am«, sagte Walser und steckte sein Notizbuch ein. »Vielleicht gestatten die Damen, daß ich sie begleite?«
    Sie sahen einander an.
    »Oh... er kann bis zur Brücke mitkommen, oder?«
    Der Pförtner in seinem knarrenden Ledermantel braute sich auf einem kleinen Ölofen Tee; er kochte nach indischer Art die Teeblätter, die Milch und den Zucker zusammen auf. Walser bekam ein kochendheißes Marmeladenglas davon ausgehändigt. Das Licht des Oktobermorgens verstärkte sich Augenblick um Augenblick, doch es wurde nicht eigentlich heller, es war ein grauer Tag mit tiefhängenden Wolken. Der Gehsteig draußen war mit dem Abfall des Vergnügens übersät.
    »Ham Sie die ganze Nacht bei Fevvers verbracht, was?« sagte der Theaterpförtner, Walser mit einem konspirativen Rippenstoß zuzwinkernd. »Nicht so gemeint, Herr Doktor, nehm Sie’s nicht übel. Die Lizzie ist ja der reine Wachhund. Außerdem ist sie ’ne richtige Dame, unsre Fevvers.«
    Und doch sah sie nun aus - in ein altes

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