Nächte im Zirkus
Zimmer in Clerkenwell wusch sich Walser, rasierte sich, zog ein frisches Hemd an und entdeckte, daß er an diesem Morgen dem gewöhnlichen Tee den »amerikanischen Kaffee« vorzog, an dem sich seine Wirtin zu seinen Ehren (wenn auch höchst ungeschickt) versuchte; Lizzie hatte seinen Magen in starkem Tee gebeizt, nach dieser Nacht mußte seine Speiseröhre mahagonibraun sein... Er blätterte in seinen Notizen. Welch ein Auftritt! Der Stil! Die Kraft! Und wie hatten die beiden Frauen den Trick mit den Uhren inszeniert? Mit welcher Fingerfertigkeit... Ohrenkünste, besser gesagt... Als er seine eigene Taschenuhr hervorzog, sah er ohne Überraschung, daß sie genau um Mitternacht stehengeblieben war.
Aber wie hatte sie das gemacht, oder gewußt?
Merkwürdiger und immer merkwürdiger.
Ein Kriegskorrespondent zwischen den Kriegen und ein leidenschaftlicher Sammler unwahrscheinlicher Geschichten, unglaublicher Geschichten, ging er später am Morgen bei seiner Londoner Redaktion vorbei, wo sein Chef mit einem grünen Augenschutz über den letzten Meldungen aus Südafrika brütete.
»Wie war es bei der Cockney-Venus?«
»Es ist der Ehrgeiz«, sagte Walser, »eines jeden echten amerikanischen Jungen, von zu Hause wegzulaufen und zum Zirkus zu gehen.«
»Und?« fragte der Redaktionsleiter.
»Ich glaube, Chef, es ist Ihnen nicht ganz klar, wie gerne ich mal eine Pause zwischen diesen harten Reportagen hätte. Das Gelbfieber neulich in Panama hat mich doch mehr mitgenommen, als ich dachte. Lassen Sie mich ein Weilchen fern von den Schlachtfeldern arbeiten! Ich brauche Erholung. Ich muß mir mein Organ für das Erstaunliche aufpolieren. Was sagen Sie zu einer Artikelserie, ›hinter den Kulissen‹, über Exotik und Wunder, Lachen und Weinen und atemlose Spannung und überhaupt? Wie wäre es, wenn unser Mitarbeiter inkognito der begabtesten Schwindlerin der Weltgeschichte zu den wundersamsten Städten des Planeten folgen würde? Durch die weglose Einöde Sibiriens und dann... bis in das Land der aufgehenden Sonne?
Noch besser: Warum schreibt sich Ihr Mitarbeiter nicht inkognito zusammen mit Fevvers für Captain Kearneys Große Kaiserliche Tour ein? Die Story direkt aus der Manege! Chef, darf ich Sie zu einer langen Reihe von Zirkusnächten einladen?«
TEIL II
ST. PETERSBURG
I
»Es war einmal ein Schwein«, sagte die Babuschka zu Klein-Iwan, der, die Augen weit aufgerissen, neben ihr auf einem dreibeinigen Schemel in der Küche hockte, während sie die Holzkohlenglut unter dem Samowar mit einem großen Blasebalg schürte, der in hellen Farben bunt bemalt war mit den Blumen und Schnörkeln der Volkskunst.
Der von langen Mühen verkrümmte Rücken der Babuschka neigte sich demütig vor dem Gefäß, in dem es sprudelnd kochte, mit der ohnmächtigen Unterwerfung eines Menschen, der um eine Frist oder eine Gnade fleht, die sich - wie ihm bereits klar ist - nicht einstellen wird; ihre Hände, diese abgenutzten, geäderten Hände, die in Jahrzehnten unwillkürlich die Holzgriffe des Blasebalges poliert hatten, daß sie glänzend leuchteten, diese ihre uralten Hände entfernten sich langsam voneinander und gingen ebenso langsam wieder zusammen, in einer Geste hypnotischer Wiederholung, als wollte sie sie zum Gebet falten.
Als wollte sie die Hände zum Gebet falten. Aber stets im letzten Augenblick - als erinnerte sie sich, daß noch etwas im Haushalt zuerst besorgt werden müßte - fingen die Hände wieder an, sich voneinander zu entfernen. Dann verwandelte sich Martha wieder in Maria und widersprach der Martha in sich: was wäre wichtiger als das Gebet? Und doch, wenn die Hände wieder beinahe zusammengekommen waren, rief die Martha wieder die Maria zu jenem zurück, was vielleicht wirklich wichtiger war, was immer es sein mochte... und so immer fort. Wäre der Blasebalg unsichtbar gewesen, wäre solcherart das Drama der immerfort wiederholten Unterbrechung einer Abfolge erschienen, und das Bild der Alten, die mit dem Blasebalg die Holzkohlenglut nährte, hätte - wäre ein Wind gekommen und hätte ihr das Werkzeug fortgerissen - eine kleine Allegorie von Fleisch und Geist und der Spannung zwischen beiden sein können, obwohl »Spannung« ein bei weitem zu energisches Wort dafür gewesen wäre, denn ihre Müdigkeit beeinflußte den Rhythmus dieser imaginären Unschlüssigkeit so sehr, daß man als Fremder einfach gedacht hätte: sie sei faul.
Mehr noch - zu Ihrer Arbeit schien eine Art unendlicher Unabgeschlossenheit zu
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