Nächte im Zirkus
Fevvers fragend-fordernd an und berührte leicht ihren eigenen Mund. Fevvers begriff.
»Singen ist nicht sprechen«, sagte Fevvers; ihre Syntax war präziser als ihre Aussprache. »Wenn sie die Sprache hassen, weil sie uns von ihnen trennt, dann nimmt der Gesang der Sprache ihre Funktion und macht sie göttlich. Der Gesang verhält sich zur Sprache wie der Tanz zum Gehen. Und sie lieben es ja, zu tanzen.«
(»Daumen drücken. Jetzt kommt’s drauf an«, fügte sie bei sich selbst hinzu.)
Die Tiere der Prinzessin gähnten und reckten sich. Sie nahm die Schürze ab. Sie besah sich Mignon von oben bis unten. Sie waren beide genau gleich groß, beides zierliche kleine Dinger, eine so blond und hell wie die andere dunkel, Zwillings-Gegensätze. Und beiden war eine Distanz eigen: das Exil war ihnen gemeinsam, die Entferntheit von uns anderen, wenn auch die Prinzessin sich ihr Exil unter den Tieren gewählt hatte und Mignons Verbannung ihr gewaltsam auferlegt worden war. Vielleicht war es dieses Gefühl der Heimatlosigkeit um Mignon, das die Prinzessin zu einem Entschluß kommen ließ. Sie nickte.
Die gesättigten Katzen lagen, die schweren Köpfe zwischen die Tatzen gebettet, zwischen den blutigen Knochen, ein schönes Stilleben - nature morte - aus orange-braunen Formen, um den geöffneten Bechsteinflügel der Prinzessin komponiert. Sie lagen schläfrig wie ungewecktes Begehren, wie unentzündetes Feuer. Ein apfelsinenfarbenes Tigerjunges hatte sich zu einem Schläfchen auf dem Klavierhocker zusammengerollt.
Mignon wurde sich zum ersten Mal der Pläne bewußt, welche die Erwachsenen für sie gemacht hatten, und als die Prinzessin in den Käfig hineinschritt, blieb sie zurück und maunzte leise vor Angst, sich an Fevvers’ Hand klammernd - aber Fevvers strahlte ermutigend, umarmte sie, hob sie einfach hoch und stellte sie innen ab, die Tür hinter ihr mit einem Ruck schließend. Die Prinzessin bedeutete Mignon mit einem Wink, sie solle sich neben dem Klavier aufstellen, von wo aus sie dem Blick der Katzen begegnen konnte. Doch die genossen nach dem Mahl ihren Schlaf und nahmen von Mignons Gegenwart nur mit dem leisesten Zucken der Nüstern und Barthaare Notiz. Die Prinzessin klopfte auf das Gewehr, das auf dem Flügel lag. Dies beruhigte Mignon ein wenig.
Die Prinzessin hob das schlafende Tigerchen hinab in das Stroh und setzte sich auf seinen Platz. Sanft fingerte sie über die Tasten, als könnte das Klavier vielleicht selbst die angemessene Musik vorschlagen.
Mignon hielt sich in enger Nähe des Klaviers, doch bald faszinierte sie der Anblick der schwarzen Finger der Prinzessin auf den weißen Tasten so sehr, daß sie vergaß, sich zu fürchten. Fevvers, die mit äußerster Konzentration zusah, streifte abwesend ihre Glacéhandschuhe ab, um an den Nägeln zu kauen. Lizzie hockte auf ihrer Handtasche und murmelte rasche Sätze in einer Sprache vor sich hin, die nicht ganz mit dem Italienischen identisch war.
Als das Klavier der Prinzessin sagte, was sie spielen sollte, schob sie sich mit einer großen Geste das Haar hinter die Ohren und attackierte die Tasten nun im Ernst. Mignon schrak auf, als sie die Musik erkannte.
Glaubt nicht, der englische Schuljunge, den ihr Mann umbrachte, habe vergessen, Mignon jenes eine Lied zu lehren, das für sie geschrieben worden war, ehe sie geboren wurde - wie hätte er, nachdem er ihren Namen einmal wußte, dem widerstehen können? Entzückt zögerte er zwischen Liszts Vertonung und der von Schubert. Wie seltsam sich auch die Begleitung auf seiner asthmatischen Mundharmonika anhörte, er brachte Mignon ihr eigenes Lied bei und ging sicher, daß sie es beherrschte, obwohl sie die Worte nicht begriff, wenn sie auch in ihrer eigenen Sprache waren.
Sprechen ist eines. Singen etwas ganz anderes.
Hier und dort regten sich die Lider der Katzen.
Fast als überwältige sie ihr eigener Mut, zitterte Mignons Stimme, als sie sie fragte, ob sie das Land kennten.
Die Katzen bewegten sich im Stroh.
Nein. Nein, es ist zu früh am Morgen.
Kennst du das Land, wo die Zitronen blühen?
Ach! Laß uns noch ein wenig schlafen. Eben erst haben wir gefressen!
Kennst du jenes Land, wo die Zitronen blühen, fragte, bat Mignon, als sie ihre Augen sich öffnen sah, ihre Augen wie kostbare Früchte.
Sie regten sich, streckten sich, es raschelte. Denn könnte dieses Land nicht das Eden unseres frühesten Beginns sein, wo unschuldige Tiere und weise Kinder unter den lieblichen Zitronenbäumen
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