Nächte im Zirkus
brotlosen Musikern zufrieden gewesen, sondern hatte unbedingt die Crème der Petersburger Musikakademie als Zirkusorchester engagieren müssen. Das Problem war nun, daß diese erlesen langhaarigen Künstler die erste Regel des Showbusineß nicht beherrschten: daß die Show weitergehen muß. Und nun brach der Walkürenritt - superb gespielt - mit einem entsetzten Mißklang ab, als das Trapez Fevvers zehn, zwölf Fuß nach unten stürzen ließ, daß sie wie ein Pendel über dem winzigen Auge aus Sägemehl hin und her schwang, dem Vortex der Schwerkraft, da drunten, tief unten.
Ihre Flügel zitterten, und die kleinen Federn an den Rändern peitschten nervös die Luft. Aber sie zeigte keine Furcht, selbst wenn sie welche empfinden mochte. Sie wand sich herum und winkte mit der freien Hand grandios salutierend der Hofloge zu. Sie streckte sogar die Zunge heraus. Die Musiker, Hörner und Geigen in ihren Händen baumelnd, der Colonel, Walser sahen zu, hilflos, angsterfüllt, eine endlose Minute lang. Nervös warteten die Charivaris.
Erst, als sie bereit war, fing sie an, ihr Pendel in Bewegung zu setzen. Schneller und schneller schwang sie hin und her, und als sie genügend Schwung gesammelt hatte, ließ sie los und durchmaß das Zelt, um auf der anderen Seite der Kuppel auf dem zweiten Trapez zu landen. Dort setzte sie sich abrupt hin, schlug ihre Flügel um sich, verschränkte die Arme wie ein zorniges Waschweib und ignorierte den Tumult, der unter ihr ausbrach - riesenhaft, unbeweglich, trotzig.
Verworrenes Gemurmel drang aus der Hofloge; man konnte den Klang von Enttäuschung heraushören.
»Bastarde!« rief Lizzie und wiederholte und erweiterte ihre Verwünschungen in verschiedenen italienischen Dialekten. Die Charivaris schossen energisch zurück. Der Colonel steckte sich eine frische Zigarre an und schien sein Schwein um einen Rat anzuflehen. Hoch droben kauerte Fevvers schmollend auf dem Trapez.
Nein. Sie kommt nicht herunter. Sie ist hier oben wohl noch am sichersten. Warum hat niemand das Seil überprüft? Welche mörderischen Schweine haben hier ihre Wichsfinger im Spiel gehabt?
So hoch sie schwebt, man kann jedes Wort verstehen.
Ein Arbeiter entdeckt, daß das Seil, welches gerissen ist, säuberlich bis zur Hälfte durchschnitten war.
Ein Komplott!
Der Verdacht fällt sofort auf die Charivaris. Die Charivaris brechen lauthals in chaotisches Argumentieren aus, springen auf, rennen auf den Brüstungen der Logen hin und her. Lizzie wirft dem Colonel einen Wasserfall rascher zorniger Rede entgegen, während die gestikulierenden Charivaris alle erdenklichen Verteidigungen vorbringen, die ihnen irgendwie von Nutzen erscheinen. Der Colonel beißt auf seine Zigarre, kitzelt seinem Schwein die Ohren und weiß im Grunde, daß es nur eins geben wird, wenn Sybil quiekt und nickt: die Charivaris hinauszuwerfen. Eine Abfindung zusätzlich zu ihrer noch unverdienten Gage, sie werden aus dem Programm gestrichen und mit dem nächsten Zug nach Mailand zurückgeschickt.
Entweder das, oder er verliert Fevvers. Was unvorstellbar ist. Besonders da Fevvers eingewilligt hat, heute abend mit ihm zu dinieren, unter der Bedingung, daß er sich Mignons neue Nummer ansieht.
Natürlich wird das nicht alles sein, soweit die Charivaris betroffen sind. Während ihrer ganzen weiteren Karriere wird die gesamte Familie an Fußpilz leiden, an Furunkeln am Hintern, Kopfschmerzen, Verdauungsstörungen... all die kleinen irritierenden schmerzhaften Leiden, die einem das Leben vergiften, ohne daß sie wirklichen bleibenden Schaden anrichten würden, all das, was einen nicht umbringt, aber einem permanent die Form vermiest. Nichts, was in sich genug wäre, um einem von ihnen den Auftritt auf dem Seil unmöglich zu machen - nur werden sie von nun an alle ein wenig schlechter sein. Nicht gut in Form. Ihr kollektives Geschick wird es sein, dauernd nicht gut in Form zu sein. Die Kinder, die Fevvers gummiartig aufhüpfen sehen wollen, werden sich nie restlos von den Kuchen des Geheimpolizisten erholen. Sie werden ihre Eltern nie ganz einholen, nicht einmal jetzt, wo diese nicht ganz in Form sind. In Zukunft wird, wenn Lizzie auch nur an die Charivaris denkt, der eine oder andere des Familienclans ein undefinierbares Reißen oder Zwicken verspüren. Der ehrwürdige Stamm, der vor Nero, Karl dem Großen, den Borgias, vor Napoleon auf dem Seil getanzt hat... die Charivaris treten nun einen langen langsamen Abstieg an. Am Ende werden sie auswandern,
Weitere Kostenlose Bücher