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Nächte im Zirkus

Nächte im Zirkus

Titel: Nächte im Zirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Carter
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ja? Sie berichten gerade nicht, wegen Ihrer Verletzung? Na, da hat ja unseres um so mehr Platz!«
    Aus ihrer enormen Handtasche zog sie einen Armvoll Papiere und zwang sie ihm in die Hand.

VIII
    Da der Star noch nie vorher in einem Zirkus aufgetreten war, stand ihr die Zirkustruppe größtenteils recht ablehnend gegenüber, vor allem aber die Charivaris, selbst seit Jahrhunderten auf dem Hochseil zu Hause, die dieselbe Auseinandersetzung mit der Schwerkraft führten wie sie - nur, daß sie mogelte! Sie waren sich dessen sicher, sie wußten es in ihrem tiefsten Inneren, sie brauchten keine Beweise. Und die Betrügerin hatte sie nun von ihrem angestammten Platz ganz oben auf den Plakaten mit Hilfe von mechanischen Tricks verdrängt. Sie neigten sogar ein wenig zu der Gummi-Theorie, was Fevvers’ Körperbau betraf. An eben diesem Morgen, beim Milchkaffee der Frühstücksrunde, hatten die Kinder gefragt, ob es denn keine Möglichkeit gäbe, sie mal vom Himmel fallen zu lassen - sehn, ob sie aufhüpft. Mama sagte tadelnd: »Ungezogene Kinder! So etwas sagt man nicht«, doch sie und Papa tauschten einen nachdenklichen Blick. Als Fevvers mit ihrem Geschenk vergifteter Kuchen den Kindern den Magen verdarb, war das Maß voll.
    Böse versammelten sie sich, um Fevvers’ Orchesterprobe zu beobachten - Dutzende von ihnen, Papa, Mama, Brüder, Schwestern, Vettern. Sie besaßen in vollem Umfang die italienische Begabung, als Menge zu erscheinen, so daß die Charivaris en masse viel gewaltiger wirkten als die Summe der einzelnen Teile, selbst ohne die kleinen Kinder, die stöhnend daheim in den Betten lagen. Als wäre es ihr ureigenstes Recht, besetzten die Charivaris die Hofloge, denn die Familie hatte schließlich seit den Tagen Neros jeden bedeutenden europäischen Kaiser unterhalten. Tatsächlich empfanden sie sich selbst als einen entscheidenden Teil der Geschichte des Zirkus, und einer solch reichen Tradition schien Fevvers eine Nase drehen zu wollen. Alle trugen auf ihren Gesichtern den starren Ausdruck von Feindseligkeit und Verachtung. Kleine, zart gebaute, aber drahtige Menschen im Trikot. Die Frauen hatten zum Ausdruck der Geringschätzung die Lockenwickler im Haar gelassen.
    Es ist ein spezifisches Phänomen der Trapezartistik, daß die Menschengestalt am Trapez immer überlebensgroß wirkt. Deshalb sind die in der Zirkuskuppel arbeitenden Artisten immer klein und schmal (wie es auch, wie die Charivaris gut wußten, die Regel für das Hochseil ist); ein großer Flugkünstler wirkt unbeholfen, ganz gleich, wie gut er seine Kunst beherrscht. Die ideale Trapezkünstlerin wiegt, sagen wir, hundert Pfund und steht nicht höher als fünf Fuß zwei Zoll in den Schuhen. Ihr Partner hat ihr vielleicht noch zehn Pfund und drei Zoll voraus, wird aber auf dem Erdboden immer noch ein kleiner Mann sein, mag er auch wie ein griechischer Gott aussehen, wenn er mit mehr als sechzig Meilen pro Stunde durch die Luft wirbelt. Fevvers war, wie man sich erinnert, sechs Fuß zwei Zoll in Strümpfen und brachte vierzehn English stone auf die Waage.
    Mein Gott, sah sie riesig aus. Ihre karmesinroten und purpurnen Flügel verdeckten im Fluge das Dachgebälk des Kaiserlichen Zirkus. Doch ihre marmornen immensen Arme und Beine wirkten bei ihren gelassen-langsamen Schwimmbewegungen durch die Luft blaß und wenig überzeugend, als wären sie willkürlich an das Gefiederkostüm angeklebt.
    Walser, den es wie eine Motte zum Licht an den Rand der Manege zog, dachte wie schon zuvor: »Sie sieht wunderbar aus, aber sie sieht aus, als ob etwas an ihr nicht stimmt. «
    Und doch konnte er nicht genau bezeichnen, was nicht stimmte, konnte nicht ausmachen, wie es genau zuging, daß die Proportionen gestört schienen, da es keine korrekten Proportionen gab, mit welchen man sie hätte vergleichen können. Oder lag es daran, daß um sie etwas war, das einen spüren ließ: während sie andere überzeugen mochte, blieb sie selbst sich im unklaren, wie nun genau ihre eigene Illusion zustandekam.
    Die Langsamkeit ihrer Flugbahn, ihre bescheidene Geschwindigkeit (25 Meilen die Stunde) - das war der ganze Trick. Die Charivaris schnaubten verachtungsvoll.
    Mit ihrer rechten Hand ergriff sie den Querstab des Trapezes.
    Es gab einen schnappenden, volltönenden Riß.
    Ein Seil ging entzwei.
    Der Colonel, der in stupider Panik zu ihr hinaufsah, so wie er noch vor einem Augenblick in törichter Ekstase emporgesehen hatte, war aus Werbegründen nicht mit den üblichen

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