Nächte in Babylon
keiner durch.«
»Perec ist ein schmächtiges Kerlchen.«
»Leidest du jetzt auch schon an Verfolgungswahn? Außerdem ist sowieso nach sechs, sieben Metern die Decke eingestürzt. Da geht es nicht weiter. Überzeug dich selbst.«
Spandau schaute hinein. Der Tunnel war tatsächlich blockiert. Nachdem ihnen auch die weitere Durchsuchung des Geländes keinen Anlass zur Beunruhigung lieferte, kehrten sie ins Haus zurück. Es war alles in schönster Ordnung.
»Willst du immer noch abreisen?«, fragte Anna ihn am Abend.
»Ich nehme morgen früh die erste Maschine.«
»Und was meinst du, wenn wir wieder zu Hause sind …?«
»Mit mir ist dieser Tage nicht mehr viel anzufangen.«
»Aber du verabschiedest dich doch noch, bevor du gehst? Versprochen?«
»Wenn du dann schon wach bist.«
»Morgen stehe ich mit den Hühnern auf«, sagte sie.
18
Nicht gestorben. Nein, er war nicht gestorben.
Stunden, Tage, Monate oder Jahre da gelegen, aber nicht gestorben, vom Schüttelfrost gebeutelt, unhörbar vor sich hin murmelnd (sie finden mich, sagte sein Verstand, sie finden mich), wie in einem Stummfilm über die Kante ins Dunkel kotzend, auf der Seite liegend, den nackten Arsch über dem Abgrund, in die Tiefe scheißend. Der ganze Dachboden stank. Wie lange lag er da mit runtergelassener Hose, in seinem eigenen Dreck, zu schwach, um sich zu bewegen? Egal. Er schleppte sich zurück in seine Ecke, verkroch sich in sein Versteck, wo er sicher war.
Aber gestorben war er nicht.
Die Zeit verging oder blieb stehen. Perec schlief und wachte auf, schlief und wachte auf, und ihm kam der Gedanke, dass er immer noch sterben könnte. Es kümmerte ihn nicht, ob er lebte oder tot war, aber vorher musste er die Sache mit Anna zu Ende bringen. Danach konnte er ruhig sterben. Nur dieser Gedanke hielt ihn am Leben. Und plötzlich wusste er, dass er schon immer auf diesen Augenblick gewartet hatte.
Es wird Zeit , sagte Anna zu ihm. Manchmal erschien sie auf der anderen Seite des Dachbodens, um ihn zu rufen, um ihn an seinen Plan zu erinnern. Er kroch bis über ihr Zimmer und lag dort, während sie unter ihm im Dunkeln schlief. Er lauschte, und er glaubte, nein, er war sich sicher, ihren leise flüsternden Atem zu hören. Ihn durchströmte eine tiefe Liebe zu ihr, ein tiefes Wissen um das, was in ihrem Herzen vorging. Niemand, niemand kannte sie so gut wie er. Sie waren Seelenverwandte, er hatte es immer gewusst. Zwillingsseelen, verbunden durch ein Blut- und Opferritual. Perec streckte sich genau über ihrem Bett aus. Er lag auf ihr, spürte ihren Körper unter sich und küsste ihr Gesicht, ihre Augen. Er sagte: Ich liebe dich, ich verstehe dich, und wartete, dass sie es ebenfalls sagte, aber sie schwieg, sie war nicht da, er küsste seinen Handrücken. Aber sie musste es wissen, jetzt gleich, bevor es zu spät war.
Er klappte die Luke auf und ließ sich in den dunklen Wäscheschrank hinab. Beim Aufkommen verdrehte er sich das Bein und wäre fast gestürzt, aber er fand das Gleichgewicht wieder, ohne ein Geräusch zu machen. Er war so leise wie ein Mäuschen. Wie eine Maus würde er zu ihr huschen. Er öffnete vorsichtig die Tür und spähte hindurch. Ein menschenleerer Korridor. Ihr Zimmer lag – wo? Er zählte die geschlossenen Türen, versuchte sich zu erinnern. Wie weit bin ich gekrochen? Er sah zur Decke und stellte sich vor, wie er die Entfernung auf allen vieren zurücklegte. Ja, da hinten musste es sein. Wie eine Maus schlüpfte er in den Korridor hinaus, an der Wand entlang. Das verdrehte Bein zitterte, so schwach war es. Darf nicht hinfallen, werde nicht hinfallen. Leise weiter bis zur Tür. Lauschen. Den Knauf drehen, ein Spalt geht auf. Lauschen, lauschen. Ihr Atem im Dunkeln. Ja, ihr Atem. Sie ist hier. Nur wenige Schritte von ihm entfernt! Die Tür gerade so weit öffnen, dass er sich hindurchschieben kann, leise wie ein Mäuschen. Die Tür vorsichtig hinter sich abschließen. Im Dunkeln neben der geschlossenen Tür verharren und sie hören, ihren Atem, das Rascheln ihrer Bettwäsche. Ein schwarz-blauer Schemen im Bett, bis sie sich umdrehte und ihr Gesicht im Schein des Weckers blassrot aufleuchtete.
»David?«, sagte sie.
Schweigend erwartete sie ihn. Doch dann weiteten sich ihre Augen, und sie wollte schreien, und er stürzte sich auf sie und hielt ihr den Mund zu. Er sagte: »Ich will Ihnen nichts tun. Ich habe ein Messer. Aber ich will Ihnen nichts tun.«
Perec legte ihr die kalte, flache Seite des Rasiermessers an
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