Nächte in Babylon
niemand beachtete Perec, niemand glotzte ihn an oder beschimpfte ihn. Auch hier war das Leben arm, aber nicht so gnadenlos wie in L. A.
Als er zum Haus der Debords zurückkam, hörte er ein leises »Pst«. Es war Amalie, die ihn in einen schmalen Durchgang winkte.
»Kommen Sie mit«, sagte sie.
Sie nahm seine Hand und zog ihn hinter sich her, an den Mülltonnen vorbei und durch ein Loch im Zaun in den kleinen Hof eines Abrisshauses. Auf einer Lichtung inmitten von Schutt und Dreck lag eine Decke auf dem Asphalt. Darauf eine Holzkiste, über die ein geblümtes Tuch gebreitet war, und rechts und links davon je ein Kissen. Auf einem kleinen Grill, in dem Stöcke und ein paar Brocken Holzkohle brannten, dampfte ein Teekessel. Amalie schaltete einen Kassettenrekorder ein, und die blechernen Klänge japanischer Musik erfüllten die Luft. Sie warf sich einen billigen, kimonoartig geschnittenen Hauskittel über.
»Für Sie habe ich leider keinen Kimono, aber Sie können das hier nehmen.«
Sie holte ein selbstgebasteltes Samurai-Stirnband mit der aufgehenden Sonne heraus und band es ihm um. Dann kauerte sie sich vor den Tisch. Perec ließ sich gegenüber nieder. Mit einfachen Haushaltsgeräten – einer Schüssel, einem Schneebesen und einer Suppenkelle – bereitete sie den Tee zu, ganz im Stil der japanischen Teezeremonie. Sorgfältig löffelte sie grünen Tee in die Schüssel und goss heißes Wasser aus dem Kessel darauf. Sie schlug die Flüssigkeit mit dem Schneebesen, bis ein weicher, heller Schaum entstanden war, und reichte Perec mit beiden Händen die Schüssel über den Tisch. Der wusste nicht, was er damit machen sollte.
»Trinken Sie«, flüsterte sie.
Perec hob die Schüssel an die Lippen. Es war ein grässliches Gebräu. Er schnitt eine Grimasse.
»Das ist kein Tee«, sagte er.
»Es ist Grüntee«, sagte Amalie. »Der heißt Matcha. Den trinkt man in Japan. Aber es kommt auch nicht auf den Geschmack an, sondern auf die Bedeutung.«
»Und was ist die Bedeutung?«, fragte Perec.
»Das weiß ich auch nicht genau. Aber anscheinend ganz was Tiefgründiges.«
Sie nahm Perec die Schüssel ab, drehte den Rand halb herum und nippte daran. Unwillkürlich verzog sie ebenfalls das Gesicht. Sie stellte die Schüssel hin und sah ihn an.
»Und wie geht’s jetzt weiter?«, fragte Perec.
»Wenn ich das wüsste«, antwortete sie. »Ich hab das noch nie mit einem anderen Menschen gemacht. Normalerweise höre ich hier einfach auf.« Sie lachte verlegen. »Wir könnten uns natürlich unterhalten.«
Perec zuckte mit den Schultern. Er wollte sich nicht mit dem Mädchen unterhalten.
»Sie sind bestimmt ein interessanter Mann«, sagte sie.
»Bin ich nicht.«
»Sie haben einen komischen Akzent. Kommen Sie aus Kanada?«
»Aus den USA . Meine Mutter war Französin, und ich bin auch Franzose. Ich bin hier in Nizza geboren.«
»Haben Sie noch Verwandte hier?«
»Gut möglich.«
»Wir könnten sie suchen.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil ich sie nicht kenne. Als ich sie zuletzt gesehen habe, war ich noch ein Baby. Und sie hatten was gegen meine Mutter.«
»Eine Familie ist was Wichtiges.«
»Nein, ist sie nicht.«
»Wie können Sie so was sagen?«
»Ist Ihr Vater wichtig? Er schlägt Sie. Ich hab es gehört. Sehen Sie sich doch bloß mal Ihr Gesicht an.«
»Man darf beim Teetrinken nicht über hässliche Sachen reden.«
»Alles ist hässlich. Die Familie. Andere Leute. Ich brauche keinen Menschen. Ich hasse sie alle.«
Sie hielt sich die Ohren zu.
»Hören Sie auf!«
Er schwieg. Sie nahm die Hände herunter und tat so, als ob nichts geschehen wäre.
»Wir sollten meditieren.«
»Ich muss los.«
»Ich bringe es Ihnen bei. Das hilft Ihnen, Ihre innere Ruhe zu finden.«
»Innere Ruhe? Da scheiß ich drauf! Und ich scheiß auch auf Ihren ekeligen Tee! Der schmeckt wie Pisse!«
Er sprang auf und rannte auf sein Zimmer, das selbstgebastelte Stirnband noch immer um den Kopf. Als er ein paar Minuten später auf seinem Bett lag, klopfte sie an die offene Tür.
»Sie haben Ihre Zeitungen vergessen.«
Sie legte sie ihm ans Fußende.
»Es tut mir leid, dass ich Sie wütend gemacht habe«, sagte sie.
»Es tut mir leid, dass ich gesagt habe, Ihr Tee schmeckt wie Pisse.«
»Sie haben recht, er schmeckt ekelig. Wahrscheinlich mache ich etwas falsch.«
»Nein, er war lecker.«
»Ehrlich?«
»Ja.«
Sie sah sich im Zimmer um.
»Lesen Sie gern?«, fragte sie mit Blick auf den Zeitungsstapel.
»Ich suche
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