Nächte in Babylon
erst sehen?«
Ohne zu antworten, drehte sich der Mann zurück zum Fernseher. Das Mädchen brachte Perec nach oben. In dem engen Flur holte sie einen Schlüssel heraus und schloss ihm die Tür auf. Das Zimmer war kaum größer als ein begehbarer Kleiderschrank. Der Platz reichte gerade für ein schmales Bett und ein Tischchen mit einem Krug und einer Waschschüssel.
»Tut mir leid«, sagte das Mädchen, als sie seinen Gesichtsausdruck sah.
»Ist schon gut. Ich nehme es.«
»Er will die Miete für eine Woche im Voraus.«
Perec zückte seine Brieftasche und zählte die zweihundert Euro ab. Doch sofort hätte er sich ohrfeigen können. Jetzt hatte das Mädchen gesehen, wie viel Geld er bei sich hatte.
»Ich bringe Ihnen frische Handtücher und Bettwäsche«, sagte sie. »Dusche und Toilette sind eine Etage tiefer.«
Sie gab ihm den Schlüssel und ging die Wäsche holen. Als Perec sich probeweise auf das Bett setzte, stieg eine Staubwolke auf. Über dem Tisch war ein kleines rundes Fenster. Perec ging hinüber und wischte die dreckige Scheibe mit dem Ärmel sauber. Unten auf der Straße spielten Kinder. Es klopfte an der geöffneten Tür. Als er sich umdrehte, kam das Mädchen hereingehuscht, legte die Wäsche aufs Bett, lächelte ihn schüchtern an und verschwand.
Perec nahm die Decke und das Laken herunter und überprüfte die Matratze auf Ungeziefer. Während er sie frisch bezog, versuchte er, nicht auf die Flecken zu achten. Als er die Decke gründlich ausschüttelte, musste er husten, und er riss schnell das Fenster auf, um den Staub abziehen zu lassen.
Hungrig und traurig machte er sich auf die Suche nach einem Bistro.
Er bestellte das Tagesmenü, das nicht sehr appetitlich roch. Ein Viertelliter Wein gehörte auch dazu. Normalerweise trank er kaum. An dem billigen Rotwein, den er für seine Mutter besorgen musste, hatte er höchstens manchmal genippt. Wein war der einzige Alkohol, den sie duldete, da er von Gott erlaubt war.
Die kleine Karaffe Wein und das Essen machten ihn schläfrig, und ihn schwindelte leicht. Als er wieder ins Haus kam, hörte er, wie der Mann hinter der geschlossenen Tür seine Tochter beschimpfte. Perec stieg hinauf in sein Kämmerchen. Sobald er die Tür hinter sich zugemacht hatte, überkam ihn das Gefühl, dass die Wände immer näher rückten, um ihn zu zerquetschen. Er hielt das Gesicht aus dem Fenster und sog die frische Luft ein, die nach Meer roch. Angezogen legte er sich aufs Bett und war in Minutenschnelle eingeschlafen.
Irgendwann in der Nacht wachte er auf. Der Mann drosch das Mädchen windelweich. Perec erinnerte sich an die Prügel, die er selbst von seinem Vater bezogen hatte. Stocksteif lag er da und lauschte den Schreien und dem Klatschen der Schläge. Und plötzlich hatte er Tränen in den Augen, aber er wusste nicht, warum.
6
Nachdem Perec am nächsten Morgen spät aufgewacht war, wollte er frühstücken gehen. Unten stand die Tür offen. Das Mädchen hockte, mit einer Schere in der Hand über eine Illustrierte gebeugt, auf dem Boden. Als er vorbeiging, blickte sie hoch. Trotz eines dick verquollenen blauen Auges lächelte sie ihn freundlich an. Überhaupt wirkte sie heiterer als gestern, fast froh. Von ihrem Vater war nichts zu sehen.
»Haben Sie gut geschlafen?«, fragte sie.
Wollte sie womöglich wissen, ob er die Prügel gehört hatte? Perec war sich nicht sicher. »Es war ein bisschen stickig«, antwortete er bloß.
»Ja, da oben kommt nicht viel Luft rein«, gab sie zu.
»Was machen Sie da?«
»Soll ich es Ihnen zeigen?«
»Wo ist Ihr Vater?«
»Auf der Arbeit. Er kommt erst heute Abend wieder.«
Perec trat ein. Überall auf dem Boden lagen Fotos und Artikel verstreut, die sie ausgeschnitten hatte. Alle hatten etwas mit Japan zu tun. Sie freute sich, dass er sich dafür interessierte, und nahm wie selbstverständlich seine Hand. Perec hätte sie ihr fast weggerissen. Sie ging mit ihm in ihr Zimmer, das kaum größer war als seine Kammer. Die Wände waren über und über mit Bildern von Japan bedeckt.
»Wie schön«, sagte Perec, obwohl es ihm wie eine sinnlose Zeitverschwendung vorkam.
»Finden Sie? Es ist alles japanisch. Ich liebe Japan. Es ist das schönste Land der Welt.«
»Waren Sie schon mal da?«, fragte Perec.
»Nein. Sie?«
»Nein«, sagte Perec.
»Das ist immer das Erste, was ich die Leute frage. Einmal habe ich einen Mann gekannt, der schon mal da gewesen ist. Er war Matrose. Er hat ein paar Tage hier gewohnt und mir alles
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