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Naechte mit Bosch - 18 unwahrscheinlich wahre Geschichten

Naechte mit Bosch - 18 unwahrscheinlich wahre Geschichten

Titel: Naechte mit Bosch - 18 unwahrscheinlich wahre Geschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel Hacke
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sofort einfiel.
    Ich ließ die Hand sinken, spürte, dass auch die Linke schon schneckenschwer war, sah in der Nähe der Brustwarzenmehrere Mittelmeer-Ackerschnecken, kurze hellbraune Tiere, die in der Fachliteratur als angriffslustig bekannt sind und schon wütend mit den Schwänzen hin und her peitschten. Ich konnte mich nicht mehr bewegen. Immer mehr, immer länger werdende feucht-kühle Schleimstreifen zogen sich über meinen Körper, dann spürte ich eine Art Kitzeln, dann ein Gefühl, als schürfe sich Haut an einer rauhen Wand ab: »Radula«, dachte ich, »ein bewegliches Band Tausender kleiner horniger Zähnchen, das die Schnecken vorwärts/rückwärts über ihre Nahrung schleifen lassen.«
    Sie schabten an mir wie an reifem Gemüse. Ich erinnerte mich, einmal etwas über fleischfressende Schnecken gelesen zu haben, die mit einem rasch vorschnellenden Saugrüssel Regenwürmer überfielen und ihre zappelnden, sich zerarbeitenden Opfer so lange festhielten, bis diese alle Kraft verloren hatten: Geduld versus Ungeduld, und die Schnecken siegten immer. Ich hatte nie herausbekommen, ob diese Würmer dann bei lebendigem Leib gefressen oder noch auf irgendeine geheimnisvolle Weise getötet wurden.
    Fleischfressende Schnecken!
    Waren Regenwürmer eigentlich Fleisch?
    Als die erste Schnecke mein Kinn erreichte, dachte ich noch: »Sie haben sogar ein Gesicht, einen Mund und zwei Augen, auch wenn sie so kurzsichtig sind, dass sie erst bei Berührung einen Reiz verspüren, den man ›Sehen‹ nennen könnte.«
    Ich wollte brüllen: »Schnägg! Schnägg!« Aber ich bekam keine Luft mehr, verlor das Bewusstsein und starb kurz darauf. Mit gesenktem Blick trat ich vor den Herrn, der sich auf einem Sofa wälzte, ein Glas 1990er Riesling d’Alsace trank und sich an einer Hamburger Wochenschrift erbaute.
    »Herr, vergib mir, ich quälte Deine Geschöpfe«, sagte ich.
    »Geht schon in Ordnung«, sagte der Herr, »sie haben sich ja ganz schön gerächt, wie ich höre.« Er lächelte süffisant.
    »Was kann ich hier oben tun?«, fragte ich, »ich will etwas tun.«
    Das war schon wieder geheuchelt, denn in Wirklichkeit neidete ich dem Alten sein Sofa.
    »Echt?«, sagte der Herr unendlich gedehnt und langsam. Ich sah ihn zum ersten Mal wirklich an. Warum war er so schrecklich lang gestreckt und am Ende spitz zulaufend? Warum war sein Körper so tief gefurcht und gerunzelt? Warum troff Schleim von diesem Sofa ins Weinglas? Warum saßen die Augen des Herrn auf langen Stielen?
    »Echt?«, sagte der Herr nach einer langen Pause noch einmal. In seinem Mund sah ich kurz ein bewegliches Band Tausender kleiner horniger Zähnchen.
    »Dann darfst du mein Gärtner sein«, sagte der Herr.

DAS WÜSTE LEBT
    E RICH S CHEITELMÜLLER war ein unauffälliger Mensch. Seine Haare waren so geschnitten, dass sie die Ohren nicht berührten, seine Unterwäsche war fein gerippt, und wenn es mittags in der Kantine Seelachsfilet gab, bestellte er mit leiser Stimme nur dann eine Extraportion Kartoffelsalat dazu, wenn jemand anders am Tisch dasselbe vor ihm getan hatte. Wäre sein Bartwuchs dichter gewesen, hätte er sich einen Schnurrbart stehen lassen. Im Winter zog er sich warm an. Er besaß einen dicken blauen Mantel mit einem Gürtel, den er im vorletzten Loch schloss. Trotz dieses Kleidungsstücks sah er oft erkältet aus. Um seine Nasenlöcher lag dann eine feine Röte, denn Scheitelmüllers Haut war empfindlich und reagierte auch auf den Flausch der allerweichsten Papiertaschentücher gereizt. Beim Gehen versuchte er stets, nicht auf die Fugen zwischen den Pflastersteinen zu treten.
    18 Jahre und drei Monate lang arbeitete Scheitelmüller in einer Bankfiliale mitten in der Stadt. Dort war er zum Bankkaufmann ausgebildet worden. Er versah Schalterdienst und wurde von seinen Kollegen beneidet, weil er sich den Namen jedes Kunden schon von dessen erstem Besuchan merken konnte. (Andererseits wussten selbst Leute, die er schon jahrelang bediente, nicht immer, wie er hieß.)
    Scheitelmüller lebte, seit er die Lehrzeit beendet hatte, in einem Ort namens Petershausen an der Peripherie der Stadt, dessen Aufstreben durch die Bahnverbindung ins Zentrum sowie die Tatsache begünstigt wurde, dass ein kleines Apartment schon für wenig Geld zu haben war, viel weniger als in der Stadt. Seine Einsamkeit milderte er durch die Mitgliedschaft in einem Schachverein sowie gelegentliche Besuche der Trabrennbahn. Die S-Bahn benötigte von Petershausen genau 40 Minuten bis

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