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Naechte mit Bosch - 18 unwahrscheinlich wahre Geschichten

Naechte mit Bosch - 18 unwahrscheinlich wahre Geschichten

Titel: Naechte mit Bosch - 18 unwahrscheinlich wahre Geschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel Hacke
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Wunsch nach bürgerlicher Unauffälligkeit zu zügeln wusste, wie er in der Meute noch eine gewisse Würde zu erhalten suchte, wie er sich an das alles auch gewöhnt hatte. Der Kerl, der da jetzt seine Wut aufs Pflaster spuckte, erschütterte ihn aber.
    An diesem Tag fuhr er zum ersten Mal spätabends noch einmal mit der S-Bahn von Petershausen in die Stadt zurück, wusste selbst nicht, was er da suchte, lief ziellos im Untergrund umher und kehrte erst spätnachts zurück. Er sah unterwegs die Rentner, die flüsternd und mit grünen Ausweisen vor der Brust Sitzplätze forderten, roch den Menschendunstder unterirdischen Bahnhöfe, hörte das Klacken der Anzeigetafeln, wenn der Zug, den sie gerade noch annonciert hatten, im Tunnel verschwunden war.
    Er blickte den Zügen nach und überlegte, was wäre, wenn er zu Fuß in einen solchen Tunnel hineinmarschieren würde wie ein Höhlenforscher. Er dachte an Expeditionen in ein verzweigtes unterirdisches Reich, nicht von Menschen geschaffen, sondern natürlich entstanden und erst später zu S-Bahn-Zwecken genutzt. Und er wunderte sich, wieso er plötzlich so etwas dachte.
    Er streifte stundenlang über die Bahnsteige, setzte sich in Züge, deren Ziel er nicht kannte, fuhr zwei, drei Stationen mit, wanderte vorbei an Drahtglaswänden, Sortimenten schwerer Brüste in den Schaufenstern geschlossener Bahnhofskioske, verkrusteten Abfalleimern, klebrigen Sprühsignaturen auf hygienisch doch sonst einwandfrei abwaschbaren Wänden. 535 Tage – und was war hier nachts?
    Am U-Bahnsteig lauschte er den Todesschreien der Mäuse, die im Schotter zwischen den Gleisen umhergehuscht waren und den Sprung von der Schiene vor dem einfahrenden Zug nicht mehr geschafft hatten. Er setzte sich in einen der blauen Züge und beobachtete einen dicken Mann, der ihm lange gegenübersaß und an den Ellbogen rote, wie entzündet aussehende Kreise hatte; als jener aufstand, streifte sein Handrücken beim Hinausgehen versehentlich Scheitelmüllers linke Wange. Er musste fast heulen nach dieser flüchtigen,unerwarteten Berührung. Ein Betrunkener stolperte über die Abteilschwelle herein, stürzte, erbrach körnig, wälzte sich brüllend, schlief ein. »Konzerthalle verteidigen!« hatte jemand auf die Mauer draußen vor dem Fenster gesprüht. Ein Mädchen murmelte vor sich hin: »Bleib sitzen, Hanne, ich sage dir, wann wir aussteigen. Eine Haltestelle noch, Hanne, dann steigen wir aus.«
    535 Tage – und nachts? Nachts fuhren doch keine Züge hier unten!?
    535 Tage im Leben, dachte Erich Scheitelmüller, sind 12 840 Stunden, das heißt: morgens immer wieder Wellen von Apfelshampoogeruch an den Haltestellen, abends Tauchbäder in Büroschweiß und so viel schlechter Atem dazwischen. Man müsste eine Typologie von S-Bahn-Schläfern verfassen, dachte er: arrogante Schläfer mit den Beinen auf dem gegenüberliegenden Sitz, weltmüde Schläfer über zusammengeknitterten Zeitungen, Routineschläfer, die die Zeit in der S-Bahn ins nächtliche Kontingent einplanten. Wie merkwürdig es aussah, wenn fertig für den Tag geschminkte Fräuleins hier morgens noch einmal in den Dämmer der Nacht fielen! Ein Schild huschte draußen am Fenster vorbei, und er überlegte lange, ob da wirklich gestanden hatte: »Menschenrettung geht vor Brandausbruch«.
    Ein Leben lang pendeln, dachte er, hin- und herpendeln zwischen zwei Punkten. Jeden Tag werden die Vororte größer, jeden Tag pendeln mehr Menschen zwischen jeweilszwei Punkten hin und her. Das Perpendikel einer Uhr verharrt an seinen Wendemarken nur für einen winzigen Moment, bevor es sich wieder fallen lässt. Es hat kein Ziel, der Weg ist ihm das Wesentliche.
    Bahnwelt, Bahnsprache. Wenn die S-Bahn abfuhr, rief jemand: »Petershausen – zurückbleiben!« Aber er rief es nicht in Petershausen, welches doch wirklich hinter der abfahrenden S-Bahn immer wieder zurückbleiben musste, sondern in der Stadt, wenn der Zug nach Petershausen vom Bahnsteig ablegte. In Scheitelmüller wuchs der Verdacht, täglich versuche ein Mann namens Petershausen aus der großen Stadt zu fliehen, nehme alle 40 Minuten einen neuen Anlauf und werde jedesmal durch den entschlossenen Ruf des Bahnbeamten an der Flucht gehindert.
    Manchmal hieß es auch: »Der Zug nach Petershausen erhält fünf Minuten Verspätung.« Scheitelmüller stellte sich dann ein Büro vor, in dem ein grauer Mann Thermoskannenkaffee trank und Verspätungen erteilte, in Antragsformularen blätterte, Verspätungspläne

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