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Naechte mit Bosch - 18 unwahrscheinlich wahre Geschichten

Naechte mit Bosch - 18 unwahrscheinlich wahre Geschichten

Titel: Naechte mit Bosch - 18 unwahrscheinlich wahre Geschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel Hacke
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abstempelte, Verspätungsanträge abschlägig beschied und mürrisch Verspätungsgelder auszahlte.
    Er stellte sich überhaupt viel vor in letzter Zeit.
    Er fuhr immer öfter anders als 7.14 Uhr und 16.54 Uhr. Manchmal ließ er sich Abende lang durch die Gegend treiben, fuhr S-Bahn, stieg irgendwo aus, fuhr mit der Rolltreppe nach oben, schlenderte die Steintreppe daneben wieder hinunter,stieg ein, aus, fuhr Fahrstuhl, tauchte ab, tauchte auf und kletterte eines Tages, gerade auf dem Bahnhof in Petershausen angekommen, in den Zug Richtung Innenstadt am Gleis gegenüber. Wieder streifte er stundenlang durch den Bauch der Stadt. Den letzten Zug zurück, 0.41 Uhr, nahm er nicht.
    Er blieb.
    Hinter dem Bahnsteig fand er im Treppenhaus eine Tür in der schmierig-orange gefliesten Wand. »Raum 3773 – 5692« stand auf einem winzigen Schild in Augenhöhe. Die Tür stand einen Spalt offen, er öffnete sie ganz. Da war ein kleiner Raum mit Wänden aus nacktem Beton, auf der rechten Seite von drei dick isolierten, silbrig glänzenden Lüftungsrohren durchzogen. Der Raum war leer. Bis vor Kurzem hatte man offenbar Putzmittel hier gelagert; ein dünner Chlorgeruch hing noch in der Luft. Scheitelmüller schloss die Tür und legte sich auf den Boden. In solchen Räumen leben sie, dachte er, die Zeugen Jehovas zum Beispiel, die den »Wachtturm« vor der Brust halten. Nachts wohnen sie hier unten, und wenn sie den »Wachtturm« verteilen müssen, kommen sie nach oben. Und der Mann mit den langen blonden Haaren und dem runden Gesicht, der zur Berufsverkehrszeit immer so schnell und mit starrem Blick über die Bahnsteige ging, alle um sich herum beschimpfte und laute Reden hielt über die Bürokraten, die sein Leben ruiniert hätten, der lebte auch in so einem Raum, bestimmt.
    Er verbarg sich, bis der letzte Zug gefahren war. Das war ungefähr halb zwei.
    Dann spazierte er über den Bahnsteig. Dass sie hier nicht einmal nachts das Licht ausschalten, dachte er. Seine Gummisohlen quietschten auf dem Pflaster. Das Geräusch war ihm neu, weil es nicht mehr durch die Leiber Wartender gedämpft wurde. Ohne Stopp rauschte ein leerer S-Bahn-Wagen durch den Bahnhof.
    Leer?
    Vorn am Steuer saß ein Eisbär, und im Fahrgastabteil standen Flamingos, trotz der großen Geschwindigkeit jeder nur auf einem Bein. Auf einem der roten Sitze hockte ein Krokodil auf den Hinterbeinen und drückte sich die Schnauze an der Scheibe platt. Scheitelmüller dachte an die Beförderungsbedingungen des Verkehrsverbundes, Paragraf zehn, Absatz drei: »Die Unterbringung von Tieren auf den Sitzplätzen ist nicht gestattet.«
    Er betrat den Kontrollstand auf dem Bahnsteig, in dem tagsüber ein Aufseher seinen Dienst versah. »Elefanten!!!«, brüllte Scheitelmüller ins Mikrofon. Aus dem Tunnel galoppierten drei Nashörner von rechts nach links, verschwanden wieder im Dunkel des Schachts. Ein glutroter Schmetterling ließ sich auf dem Fahrplan nieder, genau dort, wo der Fahrdienstleiter die Umrisse einer nackten Frau gezeichnet und immer wieder nachgezogen hatte, sodass die Silhouette bis auf die übernächste Seite durchgedrückt worden war. Irgendwoheulte ein Wolf oder bloß ein Hund oder warum nicht eine Hyäne? Aus dem Tunnel schwoll ein Donnergrollen daher, steigerte sich zum Orkan, bis schließlich eine Herde Gnus am Fahrdienstleiterkabuff vorbeistampfte wie in den besten Sielmann-Filmen, bloß ohne jede Staubentwicklung.
    Sie lassen uns den ganzen Tag hin- und herfahren, dachte er, und sagen uns nichts von alledem. Sie lassen uns Konten verwalten und in Schachvereinen spielen, aber dass es hier nachts so schön ist, sagen sie uns nicht.
    Auf der Anzeigetafel las er das Wort »Oberleitungsstörung«, dann »Obertötungsleistung«. Er empfand einen Anflug von Bitterkeit, aber nur kurz. Die Mäuse in der U-Bahn waren Vorposten einer anderen Welt, dachte er.
    Das Licht war nun rot, wie bei einem Sonnenaufgang in der Savanne, jedenfalls stellte sich Scheitelmüller einen Sonnenaufgang dort so rot vor. Ein Löwe trottete die Rolltreppe hinunter und verschwand im Notausgang. Oryx-Antilopen huschten vorbei, kaum dass er außer Sichtweite war. »3.25 Uhr«, dachte Scheitelmüller, »vermutlich laufen sie nach Ismaning.« Eine Draisine rollte das Gleis entlang, bedient von zwei schweißglänzenden sibirischen Tigern. Durch die Luft zog der Gestank von Raubtierurin. Ein Marabu balancierte auf einer Schiene.
    Scheitelmüller durchfuhr ein schnelles Glücksgefühl, wie er

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