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Naechte mit Bosch - 18 unwahrscheinlich wahre Geschichten

Naechte mit Bosch - 18 unwahrscheinlich wahre Geschichten

Titel: Naechte mit Bosch - 18 unwahrscheinlich wahre Geschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel Hacke
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zum Marienplatz – 40 Minuten hin, 40 Minuten zurück, merkwürdigerweise auch noch einem 40-Minuten-Rhythmus bei den Abfahrtszeiten folgend: 13.34 Uhr, 14.14 Uhr, 14.54 Uhr, jeden Tag, das ganze Jahr.
    Scheitelmüller pendelte mit der Regelmäßigkeit einer Standuhr. Morgens 7.14 Uhr hinein in die Stadt, abends 16.54 Uhr zurück. Fuhr er erst um 17.34 Uhr, war das eine Sensation, deretwegen er durchaus seine Frau zu Hause angerufen hätte, wäre er verheiratet gewesen.
    Er hatte ausgerechnet, dass er pro Woche 400 Minuten in der S-Bahn verbrachte. Das waren im Jahr bei 34 Urlaubstagen 17 200 Minuten gleich 286,7 Stunden gleich 11,9 Tage. Fast zwei Wochen lang ununterbrochen im Zug! Würde sein Berufsleben 45 Jahre umspannen, rechnete er weiter, hätte er am Ende 535 Tage dort verbracht, 535 mal24 Stunden – und das ohne Speisewagen! Wie viel Zeit für nichts, für ein Hin und Her in einer großen Gefängniszelle! Er stellte sich vor, dass man vor dem Weltgericht zum Pendeln mit der S-Bahn verurteilt würde wie zu einer Haftstrafe, mit Bewährung im Omnibus vielleicht. Aber wofür verurteilt, Blödmist, wofür?
    Er beanspruchte jeden Morgen im Zug denselben Platz, im zweiten Waggon von vorn, erste Tür, dann rechtsherum ans Fenster. Was heißt: beanspruchte? Er kam stets schon fünf Minuten vor Abfahrt des Zuges, damit ihm niemand seinen Platz nahm, er ihn also gar nicht erst wirklich einer anderen Person gegenüber beanspruchen musste – er wusste gar nicht, ob er zu einer solchen Äußerung überhaupt fähig gewesen wäre.
    Der Platz war nicht einmal besonders angenehm, zu kühl zum Beispiel, besonders im Winter, weil er der Tür sehr nahe war. Aber es kam ihm nicht auf die Qualität des Platzes an, sondern auf Regelmäßigkeit. Scheitelmüller sah jeden Tag dieselben Häuser vor dem Fenster, dieselben Bäume, dieselben Fabriken, dieselben Bahnsignale, bis es in den langen Tunnel unter der Stadt ging.
    Und jeden Abend wartete er an derselben Stelle des Bahnsteigs auf seinen Zug, kam die Rolltreppe herunter, ging dreißig Schritte nach schräg rechts bis zur Bahnsteigkante und blieb stehen, genau vor dem rechten Rand des zweiten Werbeplakates nach der Treppe. Jeden Abend standenneben ihm hier eine Frau Mitte 50, der er zutraute, schon Großmutter zu sein, und ein schwerer Mittvierziger mit traurigen, hängenden Wabbelwangen und einer fliehenden, von zwei Falten quer durchfurchten Stirn, den er abwechselnd für den Cheftelefonisten des Rathauses oder den Leiter der Sachbuchabteilung bei Hugendubel hielt. Scheitelmüller wechselte nie ein Wort mit ihm, aber als er dem Mann einmal an ganz anderer Stelle, auf der Trabrennbahn, begegnete, hätte er ihn beinahe wie einen alten Freund begrüßt. Er bremste sich erst in letzter Sekunde und meinte hinterher, bei seinem Gegenüber dasselbe Zurückzucken beobachtet zu haben.
    Scheitelmüller hatte sich diesen Standort am Bahnsteig ausgesucht, weil er aus Erfahrung sicher war, dass dort eine Zugtür genau vor seiner Nase zu stehen kam. Stoppte der Zug so, dass sich die Tür einen Meter weiter links oder rechts befand, nahm er das dem Zugführer persönlich übel und nannte ihn leise, ganz leise ein Arschloch.
    Eine solche Verschiebung konnte eine Niederlage im Kampf um die Sitzplätze bedeuten. Dieser Auseinandersetzung, ausgetragen im Trichter der Waggontür mit Händen, Ellenbogen, Taschen, Ganzkörpern, haftete etwas verhalten Wütendes und still Verzweifeltes an, als sei das Leben jener verwirkt, die keinen Platz ergattern würden und stehen müssten bis Petershausen. Oder als könne sich die Tür jederzeit mit schnellem, lautlosem Schnappen schließen undwie eine Guillotine jeden noch auf der Schwelle Befindlichen in eine abreisende und eine zurückbleibende Hälfte zerteilen.
    So fuhren die Züge vollgestopft ab. Die Stehenden blickten voller Hass auf die Sitzenden herab. Die Sitzenden blätterten ihre Zeitungen um, sobald sie merkten, dass ihre Gegenüber auf der Rückseite mitlasen. Sie blätterten auch, wenn sie mit einem Artikel noch gar nicht fertig waren, und weideten sich an der enttäuschten Miene der anderen.
    Einmal sah Scheitelmüller im Untergeschoss des Marienplatzes einen Mann, der, am Fuß einer Rolltreppe stehend, die nicht aufwärts fuhr, sondern abwärts, ihm entgegen also, vor sich hin wütete: »Diese Mistschweine, ja, diese Säue, ja, diese Arschkanaken!« Scheitelmüller dachte, wie sehr er im täglichen Sitzplatzkampf eigene Gier durch seinen

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