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Naechtliches Schweigen

Naechtliches Schweigen

Titel: Naechtliches Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
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den Tisch zurück, griff nach seiner Jacke und machte McCarthy ein Zeichen.
    »Ich bin in einer Stunde wieder da. Muss noch was erledigen.«
    McCarthy legte eine Hand über den Hörer, den er ans Ohr geklemmt hatte. »Und was ist mit den drei Früchtchen hier?«
    »Die sind dann auch noch da. Eine Stunde«, wiederholte er und rannte hinaus.
    Er fand sie am Strand. Sie war zwar erst seit einigen Tagen wieder Teil seines Lebens, aber er kannte ihre Gewohnheiten. Jeden Tag kam sie hierher, immer an denselben Platz. Nicht zum Wellenreiten, das war nur eine Ausrede. Sie saß nur in der Sonne, schaute aufs Meer oder lag unter dem weißblauen Sonnenschirm und las. Und ihre Wunden heilten.
    Sie sonderte sich immer von den anderen Menschen ab, die ein Sonnenbad nahmen oder am Strand spazierengingen. Auch wenn sie keinen Wert auf Gesellschaft legte, war sie doch froh, nicht alleine zu sein. In ihrem schlichten blauen Badeanzug hatte sie bereits die Aufmerksamkeit mehrerer Männer erregt, doch ein Blick genügte, um sie in ihre Schranken zu weisen.
    Michael kam es so vor, als habe sie eine gläserne Mauer um sich herum errichtet, dünn, abweisend und undurchdringlich. Er fragte sich, ob sie die Menschen um sich herum überhaupt wahrnahm.
    »Emma.«
    Er hasste es, sie zusammenzucken zu sehen, diese rasche, unfreiwillige Bewegung, die Panik verriet. Das Buch fiel ihr aus der Hand, und hinter der Sonnenbrille füllten sich ihre Augen mit Angst, die aber so schnell verschwand, wie sie gekommen war. Ihre Lippen verzogen sich leicht, und ihr Körper entspannte sich wieder. Michael bemerkte diesen Wechsel von Panik zur Ruhe, und das innerhalb weniger Sekunden, sehr wohl. Es war offensichtlich, dass sie an ein Leben in ständiger Furcht gewöhnt war.
    »Michael, ich habe heute gar nicht mit dir gerechnet. Hast du geschwänzt?«
    »Nein, ich hab' nur ein paar Minuten Zeit.«
    Er ließ sich neben ihr nieder. Eine leichte Brise blähte seine Jacke auf, so dass sie kurz das Schulterhalfter erkennen konnte. Es versetzte ihr jedesmal von neuem einen Schock, wenn sie an seinen Beruf erinnert wurde. Er entsprach so gar nicht ihrer Vorstellung von einem Polizisten. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er jemals Gebrauch von seiner Waffe machen würde.
    »Du siehst erschöpft aus, Michael.«
    »Harte Nacht.« Sie lächelte leicht, und er konnte ihr die Gedanken vom Gesicht ablesen. Sie dachte, er habe eine heiße Verabredung gehabt. Warum sollte er ihr erzählen, dass er sich den größten Teil der Nacht mit den Leichen von vier Jugendlichen befasst hatte. »Emma, hast du heute schon die Zeitung gelesen?«
    »Nein.« Sie hatte bewusst auf Zeitungen und Fernsehen verzichtet. Die Probleme der Welt und anderer Menschen lagen auf der anderen Seite der gläsernen Mauer. Doch sie fühlte instinktiv, dass er ihr etwas zu sagen hatte, was sie nicht hören wollte. »Was ist denn los?« Ihre Besorgnis wuchs, als er ihre Hand ergriff. »Ist etwas mit Papa?«
    »Nein.« Michael verfluchte sich dafür, dass er nicht sofort zur Sache gekommen war. Emmas Hand in seiner war eiskalt geworden. »Es geht um Jane Palmer, Emma. Sie ist tot.«
    Sie starrte ihn an, als würde er in einer ihr unbekannten Sprache reden. »Tot? Wie?«
    »Sieht nach einer Überdosis aus.«
    »Ich verstehe.« Emma entzog ihm ihre Hand und blickte auf das Meer hinaus. Das Wasser schillerte in einem überwältigenden Farbenspektrum, das von einem blassen Grün in Ufernähe bis hin zu einem tiefen, irisierenden Blau am Horizont reichte. Auf einmal wünschte sie sich, allein dort draußen zu treiben, weit weg von allem, in ewiger Ruhe.
    »Erwartest du jetzt irgendwelche Gefühlsregungen von mir?« murmelte sie.
    Er wusste, dass diese Frage weniger an ihn als an sie selbst gerichtet war. »Nein. Man kann nicht um jemanden trauern, der einem nichts bedeutet hat.«
    »Weißt du, ich habe sie nie geliebt, schon als Kind nicht. Damals habe ich mich dafür geschämt. Es tut mir leid, dass sie tot ist, aber das ist ein unpersönliches Bedauern, das man auch empfindet, wenn man in der Zeitung liest, dass Menschen bei einem Autounfall oder einem Wohnungsbrand ums Leben gekommen sind.«
    »Das ist genug.« Er spielte mit einer ihrer Haarsträhnen, eine Angewohnheit, die er in der letzten Zeit angenommen hatte. »Ich muss zurück, aber so gegen sieben müsste ich alles erledigt haben. Wie wär's, wenn wir ein bisschen an der Küste entlangfahren. Du, ich und Conroy.«
    »Gern.« Als er aufstand, griff

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