Naechtliches Schweigen
Vorher hatte sie bekanntgegeben, dass sie keine Fragen beantworten würde, aber die Fragen kamen trotzdem.
Sie hatte sich gerade, eine Hand auf Michaels Arm, zum Gehen gewandt, als ein besonders zudringlicher Fragesteller sie bedrängte.
»Warum sind Sie eigentlich bei ihm geblieben, wo er Sie doch all die Monate misshandelt hat?«
Obwohl sie nicht beabsichtigte, darauf zu antworten, sah sie sich unwillkürlich um. Immer noch prasselten Fragen auf sie nieder, doch nur diese eine blieb haften.
»Warum ich bei ihm geblieben bin?« wiederholte sie. Augenblicklich herrschte wieder Stille. Die Erklärung zu verlesen, war Emma nicht weiter schwergefallen; dabei handelte es sich nur um offizielle Worte, die sie nicht persönlich berührten. Doch diese eine schlichte Frage traf sie mitten ins Herz.
»Warum bin ich bei ihm geblieben?« überlegte sie laut. Auf einmal erschien ihr die Beantwortung dieser Frage lebenswichtig. »Ich weiß es nicht. Wenn mir vor zwei Jahren jemand vorhergesagt hätte, dass ich eines Tages derartige Misshandlungen widerstandslos hinnehmen würde, ich hätte ihn für verrückt erklärt. Aber ich weigere mich zu glauben, dass ich das geborene Opfer bin.« Sie warf Michael einen raschen, verzweifelten Blick zu. »Und dennoch bin ich geblieben. Drew hat mich geschlagen und gedemütigt, wo er nur konnte, aber ich habe ihn nicht verlassen. Oft genug habe ich mir vorgestellt, einfach fortzulaufen. Ich sah mich in den Fahrstuhl steigen, aus dem Haus gehen und loslaufen. Aber ich tat nichts dergleichen. Und als ich ihn dann verließ, geschah es aus demselben Grund, aus dem ich zuvor geblieben bin: weil ich Angst hatte. Also ergibt das Ganze keinen Sinn. Es ergibt keinen Sinn«, wiederholte sie, drehte sich um und verließ den Saal, ohne auf weitere Fragen einzugehen.
»Das hast du gut gemacht«, meinte Michael. »Komm, wir nehmen den Seitenausgang. McCarthy wartet schon mit dem Auto.«
Sie fuhren nach Malibu, zu dem Strandhaus, das ihr Vater gemietet hatte. Emma blieb während der Fahrt auffallend ruhig. Die eine Frage ging ihr nicht aus dem Kopf.
Warum sind Sie geblieben?
Morgens saß Emma am liebsten auf der Terrasse, schaute aufs Wasser oder lauschte dem Gezeter der Möwen, und später wanderte sie oft lange am Strand entlang. Die äußeren Spuren der Misshandlungen waren verschwunden. Ab und zu hatte sie noch Schmerzen im Brustraum, und am Kinn war eine dünne Narbe zurückgeblieben, die leicht zu entfernen gewesen wäre, hätte Emma darauf Wert gelegt. Aber die Narbe war kaum zu sehen, und sie erinnerte Emma an das Geschehene.
Die Alpträume bildeten eine weitere Mahnung. Sie kamen mit erschreckender Regelmäßigkeit und vermischten Altes und Neues miteinander. Manchmal lief sie als Kind die dunkle Diele entlang, manchmal als Erwachsene. Auch die Musik spielte wieder, aber jetzt klang sie gedämpft, so, als käme sie von weit her. Oft hörte sie Darrens Stimme ganz klar und deutlich, doch dann übertönte plötzlich Drew ihren kleinen Bruder. Ob Frau oder Kind, immer stand sie wie erstarrt vor der Tür; zu verängstigt, um sie zu öffnen.
Und immer, wenn sich ihre Hand um die Türklinke schloss, sie herunterdrücken und die Tür öffnen wollte, dann erwachte sie schweißgebadet.
Die Tage verliefen ruhig. Emma beobachtete, wie ihr Vater und Bev sich um einen Neuanfang bemühten, und das trug viel dazu bei, ihre seelischen Verletzungen zu heilen. Das Haus klang oft von Gelächter wieder, Bev experimentierte in der Küche herum, und Brian saß im Schatten und zupfte an seiner Gitarre. Es kam Emma so vor, als seien die beiden niemals getrennt gewesen. Nun, da sie den entscheidenden Schritt gewagt hatten, fiel es so leicht, zwanzig Jahre zu überbrücken.
Nur sie selbst konnte die Fehler, die sie in der Vergangenheit gemacht hatte, nicht mehr berichtigen.
Sie blieben sechs Monate in dem Haus am Strand, obwohl Emma wusste, dass es ihre Eltern nach London zurückzog. Dort hatten sie ihr Heim; etwas, das sie, Emma, erst noch finden musste.
Sie vermisste New York nicht besonders, obgleich ihr Marianne fehlte. Die Monate mit Drew hatten ihr die Stadt verleidet. Sie würde dorthin zurückkehren, schwor Emma sich. Aber sie würde nie wieder dort leben.
Lieber saß sie hier am Wasser und genoss die Sonne auf ihrer Haut. In New York hatte sie sich oft verloren gefühlt. Hier war sie nur selten allein.
Johnno war zweimal zu Besuch gekommen, jedesmal für zwei Wochen. Zu ihrem Geburtstag schenkte er
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