Naechtliches Schweigen
»Weißt du, sobald man die Dinge außerhalb ihres bestimmten Zusammenhanges sieht, verlieren sie ihren Schrecken. So wird aus einem furchterregenden Monster plötzlich nur ein mechanischer Fisch.«
»Der Film hat nichts mit dem wirklichen Leben zu tun.«
»Nein, aber ich fand schon immer, dass sich da interessante Parallelen zeigen. Nimmst du Sahne?«
»Nein, danke.« Emma schaute eine Weile wortlos zu, wie Katherine mit der Teekanne hantierte. Dann platzte sie, ohne zu überlegen, heraus: »Manchmal kommt mir die Zeit mit Drew auch wie ein Film vor, wie etwas, das ich als unbeteiligter Zuschauer betrachte. Und dann wieder, an Morgen wie diesem, wenn ich schon vor dem Morgengrauen aufwache, dann denke ich, ich bin wieder in New York, in unserem Apartment, und er schläft neben mir. Ich kann ihn förmlich atmen hören, da im Dunkeln. Diese letzten Monate kommen mir vor wie ein Film, den ich irgendwann einmal gesehen habe. Bin ich deswegen verrückt?«
»Nein, du bist nur eine Frau, die eine furchtbare Zeit durchgemacht hat.«
»Aber er ist tot. Ich weiß, dass er tot ist. Warum sollte ich mich immer noch vor ihm fürchten?«
»Tust du das denn?«
Emma konnte die Hände nicht ruhig halten. Nervös machte sie sich an den Gegenständen auf dem Tisch zu schaffen. Ein Weinglas stand noch von gestern da, eine Schüssel mit Obst und die zur Teekanne passende Zuckerdose.
»Er hat mit sämtlichen Tricks gearbeitet. Der reinste Psychoterror. Ich habe ihm alles über Darren erzählt; alles, woran ich mich erinnert habe, natürlich. All meine Gefühle und Ängste habe ich vor ihm ausgebreitet. Und... er ist nachts, nachdem ich eingeschlafen bin, heimlich aus dem Bett gestiegen.« Mit einem Mal brach eine nicht mehr aufzuhaltende Wortflut aus ihr heraus. »Er hat diese Platte aufgelegt, das Lied, das in der Nacht von Darrens Tod gespielt wurde. Dann hat er nach mir gerufen, immer wieder meinen Namen geflüstert, bis ich im Dunkeln aufgewacht bin. Ich wollte immer als erstes das Licht einschalten, aber er hat den Stecker rausgezogen, so dass ich im Dunkeln im Bett gesessen habe und nur beten konnte, dass es endlich aufhört. Wenn ich dann angefangen habe zu schreien, kam er zurück und erzählte mir, ich hätte nur geträumt. Wenn ich jetzt Alpträume habe, dann liege ich nur wie erstarrt im Bett und habe Angst, gleich geht die Tür auf und er kommt herein.«
»Hattest du heute nacht einen Alptraum?«
»Ja.«
»Kannst du ihn mir beschreiben?«
»Diese Träume sind vom Grundmuster her alle gleich. Sie spielen in der Nacht, in der Darren ermordet wurde. Ich wache auf, so wie damals. Die Diele ist dunkel, die Musik läuft, und ich habe Angst. Dann höre ich Darren weinen. Manchmal komme ich bis zu seiner Tür, und Drew steht da. Manchmal ist es jemand anders, aber ich weiß nicht, wer.«
»Willst du denn wissen, wer es ist?«
»Wenn ich wach und in Sicherheit bin, dann ja. Aber während des Traumes nicht. Mir kommt es so vor, als würde etwas Schreckliches passieren, wenn ich ihn erkenne oder wenn er mich berührt.«
»Fühlst du dich von diesem Mann bedroht?«
»Ja.«
»Woher weißt du, dass es sich um einen Mann handelt?«
»Ich...« Emma zögerte. Das nächtliche Schwarz hellte sich langsam auf, und durch das geöffnete Fenster drang das Gekreische der Möwen, das an das Weinen kleiner Kinder erinnerte. »Woher ich das weiß? Keine Ahnung, aber ich bin ganz sicher, dass es ein Mann ist.«
»Empfindest du die Männer im allgemeinen als Bedrohung - nach dem, was Drew dir angetan hat?«
»Ich habe keine Angst vor Papa oder Stevie. Und vor Johnno oder P. M. habe ich mich noch nie gefürchtet.«
»Vor Michael?«
Emma trank einen Schluck des inzwischen kaltgewordenen Tees. »Ich habe keine Angst, dass Michael mich verletzen könnte.«
»Aber Angst hast du. Wovor?«
»Dass ich nicht fähig bin...« Kopfschüttelnd brach sie ab. »Das Problem liegt nicht bei Michael, sondern bei mir.«
»Emma, deine Abneigung gegen eine körperliche Beziehung ist im Moment nur allzu verständlich, da dein letztes Erlebnis ausschließlich mit Schmerzen und Demütigungen verbunden war. Dein Verstand sagt dir zwar, dass dies weder der Zweck noch das übliche Ergebnis einer sexuellen Begegnung ist, doch zwischen dem Verstand und dem Gefühl liegen Welten.«
Bei diesen Worten musste Emma beinahe lächeln. »Willst du mir weismachen, dass meine Alpträume eine Folge sexueller Frustration sind?«
»Freud würde das sicher so
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