Naechtliches Schweigen
aufschlitzte, fielen ihm ein Begleitschreiben und ein weiterer rosafarbener Briefumschlag entgegen. Auf dem Umschlag prangte eine bekannte Adresse. Jane Palmer.
Obwohl er alles andere als abergläubisch war, starrte Michael den Umschlag lange an und dachte über Botschaften aus dem Jenseits nach. Dann öffnete er den Brief und betrachtete die ungelenke Handschrift. Innerhalb von fünf Minuten stand er samt Brief im Büro seines Vaters und sah Lou beim Lesen zu.
Sehr geehrter Detective Kesselring.
Sie haben damals den Mord an Brian McAvoys Sohn untersucht. Ich bin sicher, Sie erinnern sich noch an den Fall, ich jedenfalls tue es. Wenn Sie Interesse haben, dann kommen Sie nach London. Es war meine Idee, aber die anderen haben alles vermasselt. Wenn Ihnen die Information was wert ist, dann können wir ins Geschäft kommen.
Mit freundlichen Grüßen
Jane Palmer
»Was hältst du davon?« wollte Michael wissen.
»Vielleicht wusste sie etwas.« Lou rückte seine Brille zurecht und überflog den Brief noch einmal. »Als das Verbrechen verübt wurde, war sie sechstausend Meilen weit weg. Wir konnten sie nie damit in Verbindung bringen. Aber...« Er hatte sich schon immer gefragt, ob Jane daran beteiligt gewesen war.
»Die Briefmarke ist ein paar Tage, bevor ihre Leiche gefunden wurde, abgestempelt worden. Wegen der unvollständigen Anschrift ist der Brief hin- und hergeschickt worden, bis er schließlich bei dem Rest ihrer Papiere landete. Über acht Monate lang«, meinte Michael unzufrieden.
»Und wenn es nur acht Tage gewesen wären, was hätte das geändert. Sie war schon tot.«
»Wenn sie die Wahrheit gesagt hat, und wenn sie wusste, wer den Jungen auf dem Gewissen hat, dann hätte jemand sie aus dem Weg räumen können. Jemand, der von dem Brief nichts wusste. Ich will den Bericht einsehen, und ich will mit dem Beamten sprechen, der damals dafür zuständig war.«
Lou drehte den Brief hin und her. Es hatte keinen Sinn, Michael darauf hinzuweisen, dass der Brief an den Beamten gerichtet war, der mit diesem Fall betraut wurde. »Es ist immerhin eine Möglichkeit. Der Brief ist der erste konkrete Hinweis, den wir seit zwanzig Jahren haben.« Er erinnerte sich an das Polizeifoto eines kleinen Jungen, dann sah er seinen eigenen Sohn an. »Ich vermute, du fährst nach London.«
Emma rollte Plätzchenteig aus, aber sie war nicht ganz bei der Sache. Das Weihnachtsfest hatte sie schon immer geliebt, und zum erstenmal seit ihrer Kindheit würde sie dieses Fest wieder im Kreis ihrer Familie feiern. Die Küche duftete nach Zimt und Gewürzen, Weihnachtslieder klangen aus den Boxen, und Bev suchte gerade die Zutaten für einen Plumpudding zusammen. Draußen schneite es in dicken, weißen Flocken.
Doch Emmas Herz befand sich nicht hier, sondern sechstausend Meilen entfernt bei Michael.
Als sie die Ausstechförmchen in den Teig drückte, legte Bev ihr den Arm um die Schultern. »Ich bin so froh, dass du hier bist, Emma. Es bedeutet deinem Vater und mir sehr viel.«
»Mir auch.« Emma stach ein Plätzchen in Form einer Schneeflocke aus und legte es auf das Backblech. »Als ich noch klein war, da durfte ich das schon machen. Wenn Johnno hier wäre, dann hätte er schon ein paar geklaut und roh gefuttert.«
»Was meinst du, warum ich ihn mit Bri weggeschickt habe?« Bev sah Emma zu, wie sie Zuckerstreusel über den Plätzchen verteilte. »Du vermisst Michael, nicht wahr?«
»Ich hätte nie gedacht, dass ich ihn so sehr vermissen würde. Dabei ist es doch nur für zwei Wochen.« Emma schob das Backblech in den Ofen. Nachdem sie die Uhr eingestellt hatte, knetete sie den restlichen Teig durch, um ihn erneut auszurollen. »Wahrscheinlich ist es ganz gut, wenn ich ein bisschen Abstand gewinne. Es geht alles zu schnell.«
»Katherine sagt, du machst große Fortschritte.«
»Ich denke schon. Ich bin ihr sehr dankbar, dass sie die letzten Monate in L. A. geblieben ist. Dabei war ich anfangs so dagegen«, fügte sie lächelnd hinzu. »Aber es hilft mir wirklich, über alles zu reden.«
»Hast du immer noch Alpträume?«
»Nicht mehr so häufig wie früher. Aber ich arbeite wieder. Das Buch nimmt langsam Formen an.« Emma hielt inne, das Ausstechförmchen noch in der Hand. »Vor einem Jahr noch war Weihnachten ein Alptraum für mich. Dieses Jahr ist alles wunderbar.« Die Küchentür flog auf, und Emma fiel das Förmchen aus der Hand. »Michael?«
»In Person.«
Ohne zu überlegen, warf Emma sich in seine Arme. Noch ehe sie
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