Naechtliches Schweigen
sie das Ding vermutlich selbst gedreht. Doch sie war die letzte Person, die man dort willkommen geheißen hätte. Also hat sie jemand gefunden und irgendeinen Hebel angesetzt, um ihn gefügig zu machen.«
»Das klingt so, als ob du sie gut verstehst.«
»Ich glaube, das tue ich auch. Wenn wir davon ausgehen, dass die Entführung ihre Idee war, dann müssen wir einen Zusammenhang finden. Irgendwer auf dieser Liste war daran beteiligt.«
»Im Kinderzimmer hielten sich in dieser Nacht zwei Leute auf.«
»Und einer davon muss sich im Haus ausgekannt haben. Er musste wissen, wie die Räume genutzt wurden, wer in welchem Zimmer gewohnt hat, wo die Kinder geschlafen haben und wie der Tag gewöhnlich verlief. Also muss derjenige sowohl mit Brian als auch mit Jane in Verbindung stehen.«
»Du vergisst eines, Michael.« Lou lehnte sich zurück, um seinen Sohn aufmerksam zu mustern. »Wenn dein Name auf diesem Blatt stünde, wie viele Linien würden zu dir führen? Nichts behindert eine Ermittlung so sehr wie persönliches Engagement.«
»Und nichts motiviert stärker.« Michael drückte seine Zigarette aus. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich ohne Emma auch ein Cop geworden wäre. Sie ist damals zu uns gekommen, weißt du noch? So um Weihnachten rum. Sie wollte dich sehen.«
»Ja, ich erinnere mich.«
»Sie brauchte Hilfe, und so kam sie zu dir. Das hat mich stutzig gemacht. Vielleicht, habe ich mir gedacht, besteht die Polizeiarbeit ja doch nicht nur aus Protokollen, Formularen und Akten. Vielleicht konnte man ja wirklich Menschen helfen, die sonst keinen Ausweg mehr wussten. Irgend jemand muss schließlich wissen, was zu tun ist.«
Bewegt blickte Lou auf die Papiere auf seinem Schreibtisch. »Ich habe vor zwanzig Jahren nicht gewusst, was zu tun ist.«
»Welche Farbe hatten Darren McAvoys Augen?«
»Grün«, antwortete Lou. »Wie die seiner Mutter.«
»Siehst du? Du hast nie vergessen, nie aufgegeben. So, jetzt muss ich Emma vom Flughafen abholen. Kann ich den Kram hierlassen? Ich will nicht, dass sie das zu Gesicht bekommt.«
»Ja.« Lou hatte die feste Absicht, die Berichte seines Sohnes noch einmal Wort für Wort durchzugehen. »Weißt du was, Michael? Du hast dich zu einem guten Cop gemausert.«
»Eben ganz der Vater.«
37
Emma hatte sich selbst Zurückhaltung auferlegt. Ihre Beziehung zu Michael machte allzu rasante Fortschritte. Sie würde das Tempo ganz vorsichtig ein wenig drosseln. Ihr Buch stand kurz vor der Veröffentlichung; es war an der Zeit, ein eigenes Studio zu eröffnen und eventuell über eine weitere Ausstellung nachzudenken.
Wie konnte sie ihre eigenen Gefühle beurteilen? Ihr Leben war viel zu turbulent verlaufen. Es war so leicht, Liebe mit Dankbarkeit und Freundschaft zu verwechseln. Und dankbar war sie ihm, daran würde sich auch nie etwas ändern. Fast während ihres gesamten Lebens war Michael ihr Freund gewesen, immer gegenwärtig, auch wenn er sich weit von ihr entfernt aufhielt. Ihre Entscheidung war für sie beide das beste.
Sie hielt sich an dem Riemen ihres Fotokoffers fest, als sie durch die Zollkontrolle ging.
Da war er. Er bemerkte sie in demselben Augenblick wie sie ihn. Und all die vernünftigen, logischen Entscheidungen, die sie getroffen hatte, als sie dreitausend Meilen von ihm entfernt war, fielen in sich zusammen. Noch ehe sie ihn beim Namen rufen konnte, war er bei ihr, hob sie auf die Arme und küsste sie lange und ausdauernd, was zur Belustigung und auch zur Verärgerung der anderen Passagiere beitrug, denen er den Weg versperrte.
Als sie wieder zu Atem kam, streichelte sie kurz seine Wange. »Hi.«
»Hi.« Wieder küsste er sie. »Schön, dich zu sehen.«
»Ich hoffe, du hast nicht allzu lang gewartet.«
»Es müssen jetzt über elf Jahre sein.« Michael, der Emma noch immer auf dem Arm hielt, wandte sich in Richtung Ausgang-
»Willst du mich nicht runterlassen?«
»Ich denke gar nicht daran. Wie war dein Flug?«
»Ruhig.« Lachend küsste sie ihn auf die Nase. »Michael, du kannst mich doch nicht durch den ganzen Flughafen tragen.«
»Es gibt kein Gesetz, das es mir verbietet. Ich hab's überprüft. Du hast doch sicher Gepäck dabei?«
»Ja, natürlich.«
»Willst du das jetzt sofort abholen?«
Emma erwiderte sein Grinsen, dann schlang sie die Arme um seinen Hals und ließ sich von ihm zum Ausgang tragen.
Zwei Stunden später lagen sie, eine Schüssel Eiskrem zwischen sich, in ihrem Bett.
»Seit ich dich kenne, habe ich lauter schlechte
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