Naechtliches Schweigen
bin ich nicht zu ihm zurückgegangen. Ich wusste, dass sie ihm weh tun würden, aber ich bin fortgelaufen. Und so ist er gestorben. Ich hätte bleiben müssen. Es wäre meine Pflicht gewesen, bei ihm zu bleiben.«
»Hättest du ihm denn helfen können?«
»Ich bin weggerannt, weil ich Angst um mich hatte.«
»Du warst ein Kind, Emma.«
»Wo liegt da der Unterschied? Ich habe ein Versprechen abgegeben. Man hält seine Versprechen, egal wie schwer es auch sein mag. Ich habe Drew eines gegeben, und ich bin bei ihm geblieben, weil...«
»Weil?«
»Weil ich eine Strafe verdient hatte.« Entsetzt schloss Emma die Augen. »O Gott. Bin ich etwa die ganzen Monate bei ihm geblieben, weil ich für Darrens Tod bestraft werden wollte?«
Katherine fühlte einen kurzen Augenblick lang eine tiefe Befriedigung. Genau darauf hatte sie hinausgewollt. »Zum Teil bestimmt. Du hast einmal gesagt, dass Drew dich an Brian erinnert. Du hast dir selber die Schuld an Darrens Tod gegeben, und in der kindlichen Vorstellungswelt folgt auf Schuld unweigerlich die Strafe.«
»Als ich Drew heiratete, wusste ich nichts von seiner Gewalttätigkeit.«
»Nein, du hast nur die schöne Fassade gesehen. Ein hübscher junger Mann mit einer wunderschönen Stimme. Romantisch. Bezaubernd. Du hast jemanden ausgewählt, den du für sanft und liebevoll gehalten hast.«
»Ich habe mich geirrt.«
»Ja, in bezug auf Drew hast du dich geirrt. Er hat djch und viele andere getäuscht. Er war ein Blender, nach außen hin so anziehend und so lieb, dass du die Überzeugung gewonnen hast, das zu verdienen, was er dir antat. Er hat deine Verwundbarkeit erkannt, benutzt und ausgebeutet. Du hast nicht um Prügel gebettelt, Emma. Genausowenig wie du für den Tod deines Bruders verantwortlich bist.« Katherine nahm Emma bei der Hand. »Ich glaube, wenn du diese Tatsache akzeptierst, voll und ganz, dann wirst du dich an den Rest erinnern. Und sobald du dich erinnerst, werden die Alpträume vergehen.«
»Ich werde mich erinnern«, flüsterte Emma. »Und diesmal werde ich nicht davonlaufen.«
Die Wohnung hatte sich kaum verändert. Marianne hatte ihr nur teilweise ihre eigene bizarre Note verliehen. Ein lebensgroßer aufblasbarer Plastik-Godzilla, eine riesige Plastikpalme, die immer noch im vollen Weihnachtsschmuck prangte, obwohl der Winterschlussverkauf schon im vollen Gang war, und ein ausgestopfter Beo, der vor dem Fenster in einem Reifen schaukelte, waren hinzugekommen. Die Wände waren mit Mariannes Gemälden vollgestellt, und das Studio roch nach Farbe, Terpentin und Calvin Kleins Obsession.
Emma, die nur ein weites Sweatshirt, das über eine Schulter fiel, und mit Diamanten und Saphiren besetzte Ohrringe - ein Weihnachtsgeschenk ihres Vaters - trug, saß auf einem Stuhl in der Mitte des Raumes.
»Du bist total verkrampft«, beklagte sich Marianne, deren Bleistift flink über das Papier glitt.
»Das sagst du jedesmal, wenn du mich zeichnest.«
»Nein, du bist wirklich nicht entspannt.« Marianne schob den Bleistift in ihr Haar, das ihr jetzt in wilden Locken bis auf die Schultern fiel. »Liegt das daran, dass du wieder in New York bist?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht.« Doch in den letzten Tagen in London hatte sie gleichfalls unter ständiger Spannung gestanden. Sie konnte das Gefühl nicht loswerden, bespitzelt und verfolgt zu werden.
Blödsinn. Emma holte tief Atem. Aller Wahrscheinlichkeit nach rührte ihre innere Anspannung daher, dass sie endlich offen über ihre Probleme gesprochen hatte. Doch seit sie sich ihre ganze Qual von der Seele geredet hatte, fühlte sie sich im Grunde erleichtert.
»Sollen wir aufhören?« Trotz dieser Frage zog Marianne den Bleistift aus dem Haar und zeichnete eifrig weiter. Seit jeher wollte sie diesen stillen, wehmütigen Ausdruck in Emmas Augen festhalten. »Wir könnten einen Stadtbummel machen und mal bei Elizabeth Arden reinschauen. Ich hab' seit Wochen keine Kosmetikerin mehr gesehen.«
»Mir ist schon aufgefallen, wie furchtbar elend du aussiehst. « Emma lächelte, so dass das Grübchen in ihrem Mundwinkel zu tanzen begann. »Wie kommt's? Vitamine? Makrobiotik? Sex? Du siehst großartig aus.«
»Vielleicht Liebe.«
»Der Zahnarzt?«
»Wer? Ach was. Das ständige Gerede über Wurzelbehandlungen hat unserer Beziehung den Rest gegeben. Nein, er heißt Ross. Ich kenne ihn seit sechs Monaten.«
»Sechs Monate. Und du hast ihn nie zuvor erwähnt?«
»Ich wollte kein Unheil heraufbeschwören.«
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