Naechtliches Schweigen
Finger.
Heute nacht war er wirklich kaputt wie ein Hund. Seit fast sechsunddreißig Stunden hatte er sein Bett nicht mehr gesehen. Nun, da der Fall Calarmi aufgeklärt war, würde er sich nicht nur eine Nacht mit ungestörtem Schlaf, sondern ein ganzes faules Wochenende gönnen.
Zwölf Stunden zuvor war er gezwungen gewesen, einen Mann zu töten, was zwar nicht zum ersten mal geschehen war, aber - Gott sei Dank - selten vorkam. Immer wenn seine Arbeit derartige Ausmaße annahm, brauchte er dringend einen gewissen Alltagstrott zum Ausgleich. Kartoffelsalat, gegrillte Hamburger und nachts den festen Körper seiner Frau an dem seinen. Das Lachen seines Sohnes.
Er war ein Cop, und ein guter dazu. In seinen sechs Jahren bei der Mordkommission hatte er nur zweimal von der Waffe Gebrauch machen müssen. Wie die Mehrzahl seiner Kollegen wusste er, dass die praktische Ausübung des Gesetzes in monotonen Tagesabläufen bestand: Beinarbeit, Papierkram,
Telefongespräche. Und Momente, Bruchstücke von Sekunden, des Terrors.
Ihm war gleichfalls bewusst, dass er als Cop mit Dingen in Berührung kam, von denen der Rest der Welt gar keine Vorstellung hatte - Mord, Bandenkriege, Messerstechereien, Blut, Dreck, Abschaum.
Obgleich Lou mit Leib und Seele bei seiner Arbeit war, bereitete diese ihm keinerlei Alpträume. Er war vierzig und hatte, seit er mit vierundzwanzig seine Dienstmarke erhalten hatte, Beruf und Privatleben strikt voneinander getrennt.
Doch manchmal fiel ihm das schwer.
Sein Schnarchen brach abrupt ab, als das Telefon klingelte; er rollte sich herum und streckte mit geschlossenen Augen instinktiv die Hand aus, um den Hörer von der Gabel zu reißen.
»Ja, Kesselring.«
»Bester hier, Lieutenant.«
»Verdammte Scheiße, was wollen Sie?« Er wusste, dass er ungestraft die von seiner Frau missbilligten Sch...-Worte benutzen konnte, da Marge ihre Oropax in den Ohren hatte.
»Tut mir leid, Sie zu wecken, aber wir haben einen neuen Fall. Kennen Sie McAvoy, Brian McAvoy, den Sänger?«
»McAvoy?« Verschlafen rieb sich Lou das Gesicht.
»Devastation. Die Rockgruppe.«
»Ach ja. Richtig.« Er war kein großer Rockfan, hörte höchstens Elvis Presley oder die Everly Brothers. »Was ist denn passiert? Haben ein paar Kids die Musik so laut gedreht, dass ihnen das Hirn aus den Ohren geflogen ist?«
»Sein kleiner Sohn ist getötet worden. Sieht nach einer verpatzten Entführung aus.«
»O Scheiße.« Plötzlich hellwach, knipste Lou das Licht an. »Geben Sie mir die Adresse.«
-
Das Licht weckte Marge auf. Sie blinzelte und sah Lou nackt auf der Bettkante hocken und etwas auf seinen Block kritzeln. Ohne Murren stand sie auf, schlüpfte in ihren Bademantel und ging nach unten, um ihm einen Kaffee zu machen.
Lou fand Brian im Krankenhaus. Er war sich nicht sicher, was er eigentlich erwartet hatte. Er hatte Brian einige Male in der Zeitung oder im Fernsehen gesehen, wenn der Sänger Kritik am Vietnamkrieg geübt hatte. Lou hielt nicht viel von dieser Bande, die ständig stoned herumlief, sich das Haar bis zum Hintern wachsen ließ und an den Straßenecken Blumen verteilte. Andererseits hielt er auch nicht allzu viel vom Krieg. Einer seiner Brüder war in Korea gefallen, und sein Neffe hatte vor drei Monaten den Einberufungsbefehl nach Vietnam erhalten.
Aber im Augenblick war er weder an McAvoys politischer Einstellung noch an dessen Haartracht interessiert.
Er hielt inne und betrachtete den in einem Stuhl zusammengesunkenen Brian. In natura sah er jünger aus, stellte Lou fest. Jung, ein wenig zu mager und für einen Mann ungewöhnlich hübsch. Brian sah ihn mit jenem benommenen, fast entrückten Blick an, den der Schock mit sich bringt. Das Zimmer war voller Menschen, und aus den zahlreichen Aschenbechern kräuselte sich der Rauch.
Mechanisch führte Brian eine Zigarette an die Lippen, sog den Rauch ein, ließ die Zigarette wieder sinken und stieß eine Rauchwolke aus.
»Mr. McAvoy.«
Der Vorgang wiederholte sich, als Brian aufblickte. Er sah einen hochgewachsenen, schlanken Mann mit dunklem, sorgfältig aus dem länglichen Gesicht gekämmten Haar, der einen grauen Anzug und einen konservativen Schlips in demselben Farbton zu einem blütenweißen Hemd trug. Seine schwarzen Schuhe waren auf Hochglanz poliert, die Nägel sauber gepflegt, und auf seinem Kinn glänzte ein kleiner Kratzer, dort, wo er sich beim Rasieren geschnitten hatte.
Man achtet doch auf die seltsamsten Dinge, dachte Brian bei sich und zog
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