Naerrisches Prag
weit ausgreifend, überraschend auch jetzt im Spätsommer mit violetten und weißen Blüten übersät und mit Duftwolken die verpestete Stadtluft würzend, haben alles gesehen. Die Kriegsfolgen vergangener Jahre sind ebenso wie die vor kurzem jäh hereingebrochene Naturkatastrophe über sie hinweggegangen und wurden von ihnen überstanden. Ob sie mich erkennen? Ob sie wissen, daß ich das magere Kind mit den »sündhaft dunklen Augen« – so munkelte man in Karolinenthal – war, das sich beim Versteckenspielen gern unter sie gekauert hat? Wissen sie vielleicht, was aus all den ausgelassenen Jungen und Mädchen geworden ist, die hier herumtobten, während ihre Eltern oder erwachsenen Geschwister für 50 Heller dieStunde ein Stühlchen aus der langen Reihe auf dem schattigen Parkweg mieteten, gelangweilt auf sie aufpaßten oder angeregt mit einem Nachbarn auf dem Nebenstühlchen Gott und die Welt beredeten? Die Invaliden in den himmelblauen Uniformen durften sich, so verfügte die städtische Behörde, umsonst auf einem solchen Sesselchen niederlassen. Sofern sie nicht an einen Rollstuhl gefesselt waren, den wir Kinder manchmal »herumchauffieren« durften. Ach du mein liebes Prag von damals!
Beim Weitergehen fiel mir auf, wie schön doch die Bürgerhäuser in diesem Stadtviertel sind, mit sorgfältig erwogenen und ausgeführten Verzierungen an den Fassaden und würdevoll verzeichneten Gründerjahren, zumeist über einem schweren, oft kunstvoll geschnitzten Eingangstor. Auch diese Häuser könnten allerhand erzählen. Sie wurden noch in Österreich-Ungarn errichtet, haben 1918 die Ausrufung der Tschechoslowakischen Republik miterlebt und die Hoffnungen in den ersten Jahren des jungen Staates. Dann standen sie 1938 mit einemmal über Nacht, als der Staat zum erstenmal von einer fremden Macht besetzt wurde, in einem »Protektorat Böhmen und Mähren«, zum Teil in willkürlich umgetauften Straßen. Nach diesem unseligen Kapitel kehrten die ursprünglichen Namen, die aus der ersten Republik, auf die Straßenschilder zurück. Aber nicht für lang. Nun entstand vorerst die Tschechoslowakische Volksdemokratische Republik, was in den offiziellen Benennungen nur einen geringen Widerhall fand. Den gab es erst, als die Tschechoslowakische Sozialistische Föderative Republik deklariert wurde. Allein, auch das war noch nicht das Ende. Meine Heimat wurde im Jahr 1968 ein zweites Mal von einer fremden Macht okkupiert, diesmal zunächst ohne Umbenennung. Die ließ jedoch nicht langeauf sich warten. Seit sich etliche Jahre später unsere beiden miteinander verquickten und nun wieder freien Völker trennten und die Slowaken ihren eigenen Staat gründeten, lebe ich nunmehr in einer Tschechischen Republik, kurzerhand auch Tschechien genannt. Närrisch? Vielleicht. Aber so ergibt sich das eben in unserem unzerstörbaren Prag.
Alle diese Umstürze und Namensänderungen haben die stattlichen Bürgerhäuser in Karlín ruhig über sich ergehen lassen. Ich betrachtete sie bei meinem jetzigen Besuch mit Respekt und ein wenig neidvoll. Denn mich haben die fortlaufenden Umbenennungen, vor allem jedoch die sie hervorrufenden Umschwünge nicht nur um meine Ruhe, sie haben mich auch um manch ein Stück meines Lebens gebracht.
Als ich in solche Gedanken versunken meinen Weg fortsetzte, kam ich an einem Haus vorbei, an dessen wackligem dunkelbraunem Tor zwei Bekanntmachungen befestigt waren; die eine auf einem weißen und die andere auf einem gelben Zettel. Ich trat näher. Der weiße Anschlag verkündete, daß in dem Gebäude im Laufe der nächsten Woche zwei Tage lang kein Wasser fließen werde, die Kanalisation müsse kontrolliert werden. Der andere besagte, daß demnächst im Keller erneut eine Rattenvergiftung durchgeführt werden müsse. Ich trat ein wenig zurück, blickte hoch und sah in einem Fenster im ersten Stockwerk einen Blumentopf mit einer tapfer rosarot blühenden Pflanze. Also ist das Haus nach umfassender Evakuierung während der Überschwemmung von neuem bewohnt. Mit Unterbrechung der Wasserversorgung und wiederholter Rattenvergiftung. Und einer sorgfältig ins Fenster gestellten blühenden Pflanze.
Ich marschierte weiter, wollte vor allem mein Geburtshaus sehen, wollte mich vergewissern, daß es noch da ist. Unterwegs kam ich am einstigen Straßenbahndepot vorbei, das nunmehr über der Einfahrt ein Firmenschild des Giganten Mercedes ziert. Die rotweißen Trambahnen, die hier während meiner Kindheit ihr Nachtquartier hatten,
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