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Naerrisches Prag

Naerrisches Prag

Titel: Naerrisches Prag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenka Reinerová
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kleine, dickliche, gut gelaunte und ständig in ein dunkles Wolltuch gehüllte Frau Rothbaum in großen viereckigen Ballen auf dem Ladentisch und schnitt die gewünschte Menge mit einem Draht ab, der an beiden Seiten mit winzigen Papierröllchen zusammengehalten wurde. Diese Operation, das mühelos durch den Butterberg gleitendeDrahtinstrument, fand ich einzigartig, beinahe ein bißchen zauberhaft, und Frau Rothbaum lebt in mir in geradezu liebevoller Erinnerung weiter.
    Beide, der Laden und seine Inhaberin, fanden in den Kriegsjahren ein tragisches Ende. Jetzt ist das Nebenhaus von Frau Rothbaum durch die Hochwasserkatastrophe in der Sokolovská zusammengestürzt.
    Ich weiß, mein Namenloser, der du mich gleichzeitig von drei Tischen aus beobachtest, beschützt und ermahnst, ich weiß, daß du nicht immer und überall Unglück verhüten oder wenigstens dämpfen kannst und konntest. Ich spüre auch deine schützende Hand, oder ist es nur ein Blick, eine Ahnung oder ein tröstlicher, rettender Gedanke, den du mir eingibst? Ist es das Einst und Jetzt, das mich in Prag, und nicht nur hier, aber vor allem in Prag, begleitet, selten ruhen läßt und beinahe liebevoll vorwärtstreibt? Wenn dem so ist, dann bleibe auch weiterhin bei deinen drei Tischen und achte darauf, was mir begegnet und was damit in mir wachgerufen wird.
    Prag erholte sich langsam von der Naturkatastrophe. Aus den Hausfluren der Kleinseite und der Altstadt verschwanden die pausenlos ratternden und heulenden elektrischen Wasserpumpen, der Pestgeruch verzog sich, und die ungebetenen Hochwassertouristen, einzelne, aber auch ganze Rudel von Ratten, zogen sich erneut in die Kanäle und Rohrleitungen unter der Stadt zurück. In den Straßen erschienen abermals einladend Tische und Stühle ständig zahlreicher werdender Kaffeehausterrassen. Zu meinem Erstaunen konnte man sehr bald auch wieder richtigen Touristen begegnen.
    In dieser Lage machte ich mich zu einem Inspektionsgang nach Karlín auf, ein bißchen nervös, was ich dort vorfinden oder nie mehr finden würde. Es durfte doch wohl nicht für immer der schlimmste Prager Stadtteil bleiben.
    Ich muß gestehen, daß ich das Wesen, das gleichzeitig an drei Tischen Platz nehmen kann, mir vorschwebt und sich mir zugleich entzieht, am Ende ein Prager Zaubergeist ist – ich muß ehrlich zugeben, daß ich es bei diesem Unterfangen ganz gern mit mir gewußt hätte. Aber Traumgestalten lassen sich leider an keinem Zipfel erwischen. Also zog ich allein los.
    Durch meine Sokolovská-Königsstraße fuhr noch keine Straßenbahn, aber die U-Bahn funktionierte bereits von neuem und brachte mich bis an den Invalidenplatz. Der ist schon längst voll bebaut. Vom Skilaufen, Zirkus und anderen Vergnügungen ist nicht die geringste Spur zurückgeblieben. Das ganze Gelände wurde in Straßen aufgeteilt, besitzt die heutzutage unerläßlichen Parkplätze, auch einen vielstöckigen Hotelpalast. Die Mauern der Häuser vor mir waren noch bis fast in die Höhe der ersten Etage feucht verdunkelt.
    Warum zögerte ich? Ich hatte mir doch vorgenommen, das ganze Stadtviertel bis zum Pulverturm, also bis »nach Prag«, zu Fuß zu durchqueren. Hatte ich Angst, zu viel Zerstörtes vorzufinden?
    Am Straßenbahngeleise wurde gearbeitet. Rings um mich knatterte, kreischte und böllerte es. In der Luft flimmerte weißlicher Staub. Bald hatte ich ihn im Haar, auf der Haut, in den Augen, selbst im Mund. Kein sehr freundlicher Empfang. Hüstelnd machte ich mich auf den Weg.
    Das Invalidenheim, in dem in meinen Kinderjahren freundliche alte Herren in vaterlandslosen himmelblauen Uniformen ihren kriegsbeschädigten Lebensabend verbrachten, denn sie waren nicht mehr österreichische Verwundete, aber auch keine tschechoslowakischen, sah schlimm aus, war nun selbst ein Invalide. Sonderbar! Das dunkel rosagraue, in eine kleine Parkanlage eingebrachte, eher niedrige Gebäude schien das traurige Schicksal zu haben, Verunglückte zu beherbergen. Zuerst unschuldig verkrüppelte Menschen und jetzt vom Wasser heimgesuchte, zum Teil nicht mehr zu rettende Archivalien, stumme und dennoch sehr beredte Zeugen vergangenen Geschehens! Die Wasserfluten haben unter anderem zahlreiche unersetzbare Architekturbelege endgültig zerstört. Auch ein SS-Archiv aus den bösen Okkupationsjahren 1939–1944 soll hier durch die Überschwemmung vernichtet worden sein.
    Ich sah mich um. Die alten Fliederbüsche in dem kleinen Park vor dem schwer betroffenen Bau, majestätisch

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