Naerrisches Prag
auf der Straße gleich meiner Mutter verwundert und tadelnd den Kopf. Kinder rannten mir begeistert nach, und aus einer Trambahn erklang anhaltend schrilles Klingeln, um die Passagiere auf diese Narrheit aufmerksam zu machen. Auf der Königsstraße mit Skiern! Ich stapfte, besser gesagt trampelte, das allgemeine Aufsehen genießend, stolz weiter. Die Abfahrt von der Böschung am hinteren Ende des Invalidenplatzes dauerte dann alles in allem etwa eine kostbare Minute.
Meine Verknüpfung mit Karlín ist besonderer Art. Die erwähnte Eisenwarenhandlung meiner Eltern war ein düsterer, stets kalter Raum voll von Metallstangen und Reifen, Eimern und allerhand sonderbarem Gerät. Vor dem Laden dampften im winterlichen Frost Pferdegespanne der Schmiede aus den benachbarten Randvierteln der Stadt. Sie zählten zu den ständigen Kunden, nannten meine Mutter »schöne Frau«, was mir ebenso gefiel wie die in der Kälte schnaubenden Pferde, die in Karlín sonst nicht zu sehen waren. Und als einmal der bekannte böhmische Zirkus Kludský auf dem Invalidenplatz sein großes Zelt aufschlug und bei meinem Vater eine Kette für den Löwen gekauft wurde, steigerte das meine Position unter den Karolinenthaler Kindern beträchtlich. Gehörte ich doch auf diese Weise eigentlich selbst ein wenig zu dem Zirkus.
In unserer Straße gab es in einem Haus, gleich neben dem lokalen Postgebäude, eine Tabaktrafik, die, als ich ein bißchen älter wurde, geradezu unheimlich meine Aufmerksamkeit auf sich zog. An ihrer Glastür waren an einer Schnur stets einige Seiten aus verschiedenen, nicht unbedingt seriösen Zeitschriften befestigt, um Kunden anzulocken. Dort betrachtete ich zum erstenmal Illustrationen mit mehr oder weniger entblößten Frauen. Die Texte unter diesen aufregenden Bildchen konnte ich zu meinem Leidwesen nicht verstehen, was ich sah, war freilich an sich schon rätselhaft genug.
Am Ende der zwanziger Jahre und bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges war Karolinenthal ein typisch bürgerliches Prager Stadtviertel mit tschechischer, deutschsprachiger und auch jüdischer Bewohnerschaft. Diese Zusammensetzung hat sich allerdings nach dem Jahr 1945 wesentlich verändert. Die deutsche Bevölkerung ist nicht mehr im Land, die jüdische nicht mehr auf der Welt. Aber die Straßen mit ihren soliden und zum Teil recht ansprechenden Bauten umwehen mich, ein Kind aus diesem Stadtteil, wann immer ich mich dort einfinde, mit einem Anflug beinahe heiterer Wehmut. Der kleine Sportplatz hinter dem Park wurde im Winter in eine Eisfläche verwandelt. Dort lernte ich Schlittschuhlaufen. Vor der stattlichen Cyril- und Methodiuskirche, die den rechteckigen Stadtplatz dominiert, bettelten oft großäugige Zigeunerkinder, und wenn ihnen meine Mutter ein paar Münzen hinhielt, riefen sie: »Gott gebe Ihnen Gesundheit, schöne Frau!« Dabei lachten sie ausgelassen und rannten schnell davon, um einige Süßigkeiten oder auch vermittels eines älteren Bruders im Fuhrmannsgasthof »Zur Stadt Hamburg« am unteren Ende des Platzes einen Schluck Bier zuergattern. Das Bronzetor der Karolinenthaler Kirche, angeblich der ältesten neuzeitlichen Prags, schmückten Reliefs mit Szenen aus dem Leben ihrer beiden Patrone, der Schöpfer der slawischen Liturgie. Hat wenigstens das wuchtige Metalltor den reißenden Fluten standhalten können?
An der oberen Grenze meines so persönlichen Stadtviertels steht das Karlíner Theater, in jüngster Zeit vor allem ein Haus für Musicals, in meinen Kindheitstagen jedoch ein Varieté. Dort habe ich meinen ersten Theaterbesuch absolviert, sah auf der Bühne einen kleinen Schimpansen in karierten Höschen auf einem Trittroller über die Bühne sausen und einen Seelöwen auf seiner Nasenspitze mit einem bunten Ball jonglieren. Hat vielleicht gerade dieser erste fröhliche Theaterbesuch mein dauerhaftes Interesse für Kunst und Kultur in mir erweckt? Wer weiß.
Wenn man aus Karolinenthal »nach Prag« ging, d. h. in das Stadtzentrum zwischen Pulverturm und Wenzelsplatz, Wenzelsplatz und Insel Kampa, Kleinseite und Altstädter Ring, trabte man geraume Zeit durch die lange Königsstraße, die jetzige Sokolovská. Das war an sich eher langweilig. Aber es gab dort, schon näher zu »Prag« als zu meinem Geburtshaus, eine Stelle, die mich faszinierte. Das war der Laden von Frau Rothbaum, bei der meine Mutter ab und zu eine Gans kaufte und auch ein Stück Butter, weil hier alles »besonders frisch« war. Ihre Butter präsentierte die
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