Nahe dem wilden Herzen (German Edition)
er:
»Warten worauf?«
»Bis ich hübsch bin. Hübsch wie ›sie‹.«
Es war seine Schuld, das war sein erster Gedanke, wie eine Ohrfeige ins eigene Gesicht. Es war seine Schuld, weil er sich zu sehr zu Joana hingeneigt hatte, weil er gesucht hatte, ja gesucht – nein, nein, keine Ausflüchte –, weil er dachte, er könnte das ungestraft tun, das Versprechen der Jugend in ihr, zerbrechlich und brennend. Und bevor er seine Gedanken in der Gewalt hatte – die Hände unter dem Tisch geballt –, kam es erbarmungslos: der Egoismus und der ungebändigte Hunger des Alters nahten. Oh, wie er sich dafür hasste, dass er daran gedacht hatte. »Sie«, die Frau, war hübscher? Die »andere« auch. Und die »andere« von heute Abend auch. Aber wer hatte diesen noch ungeformten Körper, diese nervösen Beine, Brüste, die erst wachsen würden – das Wunder: noch würde es wachsen, dachte er benommen, sein Blick trübte sich –, wer war wie klares, frisches Wasser? Der Hunger des Alters nahte. Entsetzt kroch er in sich zusammen, wütend und feige.
Wieder kam seine Frau herein. Sie hatte sich für den Abend umgezogen, ihr kräftiger, begrenzter Körper steckte jetzt hinter einem blauen Stoff. Ihr Mann sah sie lange an, mit unbestimmtem, etwas dumpfem Gesichtsausdruck. Ernst und rätselhaft hielt sie seinem Blick stand, mit der Andeutung eines Lächelns im Gesicht. Joana sank zusammen, wurde immer kleiner und dunkler angesichts dieser glänzenden Haut. Sie fühlte, wie Scham über die vorangegangene Szene sie überkam und sie lächerlich klein machte.
»Ich gehe dann«, sagte sie.
Die Frau – oder täuschte sie sich – die Frau sah ihr direkt in die Augen, sie verstand, sie verstand! Und dann hob sie den Kopf, in ihren hellen ruhigen Augen lag Sieg, vielleicht auch ein bisschen Sympathie:
»Wann wirst du wiederkommen, Joana? Du musst dich öfter mit dem Lehrer unterhalten …«
Mit dem Lehrer, hatte sie mit spielerischer Vertrautheit gesagt, und sie war weiß und glatt. Nicht so elend und unwissend, nicht verlassen und mit schmutzigen Knien wie Joana, ja, wie Joana! Joana stand auf, sie wusste, dass ihr Rock kurz war, dass ihre Bluse sich über der winzigen, zaghaften Brust straffte. Weglaufen, zum Strand hinunter, sich in den Sand legen, das Gesicht verbergen und dem Rauschen des Meeres zuhören.
Sie drückte die weiche Hand der Frau, drückte seine große Hand, die größer war als eine Menschenhand.
»Willst du das Buch nicht mitnehmen?«
Joana drehte sich um und sah ihn, sah seinen Blick. Ah, in ihr schimmerte die Entdeckung, der Blick war wie ein Händedruck, ein Blick, der wusste, dass sie sich nach dem Strand sehnte. Aber warum so schwach, so ganz ohne Freude? Was war denn schon geschehen? Vor wenigen Stunden noch hatte man sie eine Natter genannt, der Lehrer floh, und die Frau wartete … Was war los? Alles wich zurück … Und plötzlich hob sich in ihrem Bewusstsein die Umgebung mit einem Schrei heraus, nahm in allen Einzelheiten Form an und überflutete die Menschen mit einer großen Welle … Ihre eigenen Füße schwammen. Das Zimmer, in dem sie schon so viele Nachmittage verbracht hatte, leuchtete im Crescendo eines Orchesters stumm auf, als Rache für ihre Ablenkung. Mit einem Mal entdeckte Joana die ungeahnte Kraft dieses stillen Zimmers. Es war ihr immer fremd vorgekommen, schweigsam, abwesend, als hätte es nie jemand betreten, als sei es nur eine Erinnerung. Die Gegenstände hatten sich bis jetzt zurückgehalten, und nun näherten sie sich Joana, umzingelten sie, leuchtend, strahlend im Halbdunkel der Dämmerung. Verblüfft erblickte sie über der glitzernden Vitrine die nackte Statue, deren Linien leicht verschwommen waren wie in einer ausschwingenden Bewegung. Die Stille der unbeweglichen, eleganten Stühle teilte sich ihrem Gehirn mit und entleerte es langsam … Sie hörte eilige Schritte auf der Straße, sah die stattliche, ernste Frau, die sie anblickte, und auch diesen kräftigen Mann mit dem gebeugten Rücken. Was erwarteten sie von ihr? – durchfuhr es sie. Sie fühlte den harten Buchdeckel zwischen ihren Fingern, weit, weit weg, als würde ein Abgrund sie von ihren eigenen Händen trennen. Was nun? Warum hatte jedes Wesen ihr etwas mitzuteilen? Warum nur, warum? Und was wollten sie von ihr, wenn sie sie immerzu aussaugten? Der Schwindel stieg wirbelnd schnell in ihren Kopf und brachte ihre Beine zum Wanken. Sie stand schon seit einigen Minuten vor ihnen, ohne ein Wort zu sagen, sie
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