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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clarice Lispector
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leise. Und sie liebte diesen Mann, so als wäre sie ein feiner Grashalm, den der Wind biegt und peitscht. Er antwortete nicht, aber seine Augen waren stark und voller Mitleid. Was? Plötzlich erschrak sie:
    »Was wird aus mir werden?«
    »Ich weiß es nicht«, antwortete er nach kurzem Schweigen, »vielleicht wirst du manchmal glücklich sein, ich verstehe es selbst nicht, glücklich in einer Weise, um die dich wenige beneiden werden. Ich weiß nicht einmal, ob man das Glück nennen kann. Vielleicht wirst du niemand mehr finden, der so wie du fühlt, wie …«
    Die Frau des Lehrers trat ins Zimmer. Sie war hochgewachsen, fast schön mit ihrem kurzen, kupferfarbenen glatten Haar. Und vor allem die langen, ruhigen Schenkel, die sich wie blind bewegten, aber mit einer Sicherheit, die einen erschreckte. Was hatte der Lehrer wohl sagen wollen, dachte Joana, bevor »sie« hereinkam? ›Niemand sonst, der so wie du fühlt, wie … wie ich?‹ Oh, diese Frau. Sie sah sie flüchtig an und senkte erzürnt den Blick. Da saß der Lehrer, nun wieder weit weg, die Hand hatte er zurückgezogen, die Mundwinkel zeigten nach unten, undurchdringlich, als sei Joana nichts weiter als seine »kleine Freundin«, wie die Frau sie nannte.
    Sie war näher gekommen, hatte die weiße lange, fast wächserne und doch unerklärlich anziehende Hand auf die Schulter ihres Mannes gelegt. Und Joana sah, voller Schmerz, der es ihr schwer machte, den Speichel hinunterzuschlucken, den wundervollen Gegensatz zwischen diesen beiden Menschen. Seine noch schwarzen Haare, sein mächtiger Körper wie der eines Tiers, das noch größer war als ein Mensch.
    »Willst du jetzt zu Abend essen?«, fragte die Frau.
    Er spielte mit dem Bleistift zwischen den Fingern:
    »Ja, ich werde etwas früher losgehen.«
    Die Frau lächelte Joana an und zog sich langsam zurück.
    Noch etwas verunsichert dachte sie, dass das Erscheinen dieses Geschöpfes wieder einmal deutlich machte, dass der Lehrer ein Mann war und Joana noch nicht einmal ein junges Mädchen. Und würde er auch nur, mein Gott, würde er wenigstens merken, wie hassenswert diese weiße Frau war, wie gut sie jegliches Gespräch zu zerstören wusste!
    »Werden Sie heute Abend Unterricht geben?«, fragte sie zögernd, nur damit sie weiterredeten. Und sie wurde rot, als sie das aussprach, es klang so farblos, und sie hatte gar kein Recht … Es klang nicht so wie die Worte der Frau, die so schön und ruhig gesagt hatte: Willst du früher zu Abend essen?
    »Ja«, antwortete er und blätterte in den Papieren auf dem Tisch.
    Joana stand auf, wollte gehen, aber plötzlich, bevor sie selbst ihre Bewegung wahrnahm, setzte sie sich wieder hin. Sie beugte sich über den Tisch, verbarg ihre Augen und begann zu weinen. Um sie herum war es still, und sie konnte gedämpfte Schritte im Haus hören. Eine lange Minute verstrich, bis sie auf dem Kopf ein leichtes, weiches Gewicht spürte, die Hand. Seine Hand. Sie hörte den hohlen Klang ihres Herzens und hielt den Atem an. Sie konzentrierte sich vollständig auf ihr Haar, das jetzt mehr als alles andere lebendig war, riesig, nervös, kräftig unter den fremden, wachen Fingern. Eine andere Hand hob ihr Kinn, unterwürfig und zitternd ließ sie sich betrachten.
    »Was ist denn?«, fragte er lächelnd. »Unser Gespräch?«
    Sie konnte nicht sprechen, schüttelte den Kopf.
    »Was denn dann?«, insistierte er mit fester Stimme.
    »Ich bin hässlich«, antwortete sie gehorsam, ihre Stimme blieb ihr in der Kehle stecken.
    Er erschrak. Seine Augen wurden größer, er blickte sie durchdringend und überrascht an.
    »Nanu«, nach einem Augenblick versuchte er zu lachen, »ich hatte schließlich beinahe vergessen, dass ich mit einem kleinen Mädchen gesprochen habe … Wer hat denn gesagt, dass du hässlich bist?«, lachte er von neuem. »Steh auf.«
    Sie erhob sich mit zusammengezogenem Herzen, und es war ihr bewusst, dass ihre Knie wie immer grau und trüb waren.
    »Ich muss zugeben, noch ein bisschen ohne Form, aber das wird sich alles geben, lass dir nichts vormachen«, sagte er.
    Sie sah ihn durch ihre letzten Tränen hindurch an. Wie sollte sie es ihm erklären? Sie wollte keinen Trost, er hatte das nicht verstanden … Der Lehrer nahm ihren Blick mit Stirnrunzeln auf. Was denn, was denn nur?, fragte er sich selbst voller Unbehagen.
    Sie hielt den Atem an:
    »Ich kann warten.«
    Auch der Lehrer atmete für einige Sekunden lang nicht. Mit plötzlich kalt klingender Stimme fragte

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