Nahe dem wilden Herzen (German Edition)
Gesicht glattschleift und die Haare zurückweht.
Wie es ihnen verkünden?: es war der zweite Schwindelanfall an einem einzigen Tag? – selbst wenn sie darauf brennen würde, jemandem das Geheimnis zu verraten. Denn nie wieder in ihrem Leben würde jemand, vielleicht nie wieder jemand zu ihr sagen, wie der Lehrer: Man lebt und stirbt. Sie alle vergaßen es, sie konnten alle nur spielen. Sie sah sie an. Ihre Tante spielte mit einem Haus, einer Köchin, einem Ehemann, einer verheirateten Tochter und Gästen. Der Onkel spielte mit Geld, mit Arbeit, mit einem Hof, mit einem Schachspiel und mit Zeitungen. Joana versuchte sie zu analysieren, in dem Gefühl, sie so zu zerstören. Ja, sie mochten sich auf eine weit entrückte, alte Art und Weise. Hin und wieder warfen sie sich, beschäftigt mit ihren Spielsachen, unruhige Blicke zu, als wollten sie sich versichern, dass sie noch existierten. Dann nahmen sie wieder die laue Distanz ein, die sich anlässlich einer Erkältung oder eines Geburtstags verringerte. Sie schliefen sicher zusammen, dachte Joana, ohne Vergnügen an der Boshaftigkeit zu finden.
Die Tante reichte ihr schweigend den Brotteller. Der Onkel hob nicht die Augen vom Teller.
Essen war eins der großen Kümmernisse dieses Hauses, dachte Joana weiter. Während der Mahlzeiten aß der Mann, die Arme schwer auf den Tisch gestützt, leicht keuchend, weil er es mit dem Herzen hatte, und während er kaute, einen vergessenen Krümel am Mund, war sein Blick stier auf irgendeinen Punkt gerichtet, seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich ganz auf die Empfindungen, die durch die Essensaufnahme in ihm hervorgerufen wurden. Die Tante überkreuzte unter dem Stuhl ihre Füße, und mit hochgezogenen Augenbrauen aß sie mit einer Neugierde, die sich bei jeder Gabel wiederholte, ihr Gesicht wirkte verjüngt und beweglich. Aber warum lehnten sie sich heute nicht in den Stühlen zurück? Warum vermieden sie es, mit dem Besteck zu klappern, als wäre jemand gestorben oder würde schlafen? Es liegt an mir, ahnte Joana.
An den dunklen Tisch hatte sich heute Abend, unter dem von den schmutzigen Fransen des Lampenschirms abgeschwächten Licht, auch das Schweigen gesetzt. Manchmal hielt Joana inne, um das Kauen der beiden Münder zu hören und das leichte, nervöse Ticktack der Uhr. Dann blickte die Frau auf, und unbewegt, mit der Gabel in der Hand, wartete sie ängstlich und demütig. Joana wandte den Blick ab, siegesgewiss, senkte den Kopf in einer tiefen Freude, die unerklärlicherweise mit einem schmerzhaften Knoten in der Kehle verbunden war, mit der Unfähigkeit zu schluchzen.
»Armanda kommt nicht?« Joanas Stimme beschleunigte das Ticktack der Uhr und erzeugte eine plötzliche, hastige Bewegung am Tisch.
Onkel und Tante sahen sich verstohlen an. Joana atmete hörbar ein: Dann hatten sie also Angst vor ihr?
»Armandas Mann hat heute keinen Bereitschaftsdienst, deshalb ist sie nicht zum Abendessen gekommen«, entgegnete die Tante schließlich. Und plötzlich, zufrieden, machte sie sich wieder ans Essen. Der Onkel kaute schneller. Das Schweigen kehrte zurück, ohne das Murmeln des Meeres in der Ferne zu übertönen. Sie hatten also nicht den Mut.
»Wann komme ich ins Internat?«, fragte Joana.
Die Suppenterrine entglitt der Hand der Tante, die dunkle, zynische Flüssigkeit breitete sich schnell auf dem Tisch aus. Der Onkel ließ das Besteck auf den Teller fallen, sein Gesicht war verängstigt.
»Woher weißt du denn …«, stammelte er verwirrt.
Sie hatte an der Tür gehorcht …
Die durchnässte Tischdecke dampfte leicht wie Überreste eines Feuers. Unbewegt und fasziniert, als stünde sie vor etwas Unwiederbringlichem, starrte die Frau auf die verschüttete Suppe, die schnell abkühlte.
Das blinde und taube, aber auf fröhliche Art unstumme Wasser glitzernd und blubbernd beim Auftreffen auf die helle Emaille der Badewanne. Der Raum zum Ersticken voll mit lauwarmem Dampf, die Spiegel beschlagen, das Spiegelbild des bereits nackten Körpers eines jungen Mädchens auf dem feuchten Kachelmuster der Wände.
Das Mädchen lacht sanft vor Freude an ihrem Körper. Ihre schlanken glatten Beine, die kleinen Brüste heben sich wie Knospen aus dem Wasser hervor. Sie kennt sich kaum, ist noch nicht einmal ausgewachsen, hat gerade ihre Kindheit hinter sich gelassen. Sie streckt das eine Bein aus, betrachtet ihren Fuß von weitem, bewegt ihn zärtlich, langsam, wie einen zerbrechlichen Flügel. Sie hebt die Arme über den Kopf in
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