Nahe dem wilden Herzen (German Edition)
Innere des Nachmittags, ins Innere des Verstehens.
»Nein, ich weiß wirklich nicht, welchen Rat ich dir geben könnte«, sagte der Lehrer. »Sag mir zuerst mal: Was ist gut und was ist böse?«
»Ich weiß nicht …«
»Ich weiß nicht ist keine Antwort. Lerne, alles zu finden, was in dir ist.«
»Gut ist zu leben …«, stammelte sie. »Böse ist …«
»Ist was …?«
»Böse ist, nicht zu leben …«
»Sterben?«, fragte er.
»Nein, nein …«, stöhnte sie.
»Was dann? Sag schon.«
»Böse ist, nicht zu leben, mehr nicht. Sterben ist wieder etwas anderes. Sterben ist etwas anderes als Gut und Böse.«
»Ja«, sagte er, ohne zu verstehen. »Gut. Jetzt sag mir mal: Wer ist deiner Meinung nach der wichtigste zeitgenössische Mensch?«
Sie überlegte, überlegte und antwortete nicht.
»Was magst du am liebsten?«, setzte er nach.
Joanas Gesicht erhellte sich, sie setzte zum Sprechen an, merkte dann aber plötzlich, dass sie nicht wusste, was sie sagen sollte.
»Ich weiß nicht, wirklich nicht«, entgegnete sie verzweifelt.
»Wie das denn? Warum hast du dann fast gelacht vor Vergnügen?«, erwiderte der Lehrer überrascht.
»Ich weiß nicht …«
Er sah sie streng an:
»Dass du nicht weißt, wer der wichtigste zeitgenössische Mensch ist, obwohl du viele kennst, nun gut. Aber dass du nicht einmal weißt, was du selbst empfindest, das missfällt mir.«
Sie sah ihn niedergeschlagen an:
»Sehen Sie, was ich am liebsten auf der Welt mag … Das fühle ich hier drinnen, wie es sich öffnet … Fast, fast kann ich sagen, was es ist, aber ich kann nicht …«
»Versuche es zu erklären«, sagte er mit gerunzelter Stirn.
»Es ist wie etwas, das sein wird … Es ist wie …«
»Es ist wie was …?« Er beugte sich nach vorne, ernsthaft fordernd.
»Es ist wie der Wunsch, tief einatmen zu können, aber auch die Angst … Ich weiß nicht … Ich weiß nicht, es tut beinahe weh. Es ist alles … Alles.«
»Alles …?«, wunderte sich der Lehrer.
Sie nickte, erregt, rätselhaft, heftig:
»Alles … «
Er sah sie noch eine Weile an, ihr kleines, angstvolles und entschlossenes Gesicht:
»Nun gut.«
Er schien zufrieden zu sein, aber sie verstand nicht, warum, denn sie hatte nichts »darüber« gesagt. Aber wenn er sagte »ist gut«, dachte sie glühend und hingegeben, wenn er sagte »ist gut«, dann stimmte es.
»Welchen Menschen bewunderst du am meisten? Außer mir, außer mir natürlich«, fügte der Lehrer hinzu. »Wenn du mir nicht hilfst, kann ich dich auch nicht kennenlernen, kann ich dich nicht anleiten.«
»Ich weiß nicht«, sagte Joana und rang die Hände unter dem Tisch.
»Warum hast du nicht einen von diesen großen Männern genannt, die es da draußen gibt? Du kennst sicher ein Dutzend davon. Du bist viel zu ehrlich, viel zu ehrlich«, sagte er voller Missfallen.
»Ich weiß nicht …«
»Gut, macht nichts«, beschwichtigte er. »Gräme dich nicht, weil du keine Meinung zu verschiedenen Themen hast. Gräme dich nicht, weil du etwas nicht bist oder es doch bist. Ich glaube, du würdest sowieso nur diesen Rat annehmen. Und gewöhn dich daran: Was du empfunden hast – in Bezug auf das, was du auf der Welt am liebsten magst –, das ist vielleicht nur dem Umstand geschuldet, dass du keine bestimmte Meinung über wichtige Menschen hattest. Du wirst noch viel geben müssen, um anderes zu empfangen.« Pause. »Ärgert dich das?«
Joana dachte einen Augenblick nach, den dunklen Kopf geneigt, die Augen weit geöffnet.
»Aber wenn man das Höchste hat«, sagte sie langsam, »heißt das nicht auch, dass man dann sozusagen schon das hat, was darunterliegt?«
Der Lehrer wiegte den Kopf.
»Nein«, sagte er, »nein. Nicht immer. Manchmal besitzt man das Höchste und am Ende seines Lebens hat man den Eindruck …« – er sah sie von der Seite an – »hat man den Eindruck, als Jungfrau zu sterben. Und dass die Dinge vielleicht nicht höher oder niedriger sind. Sie sind einfach unterschiedlicher Art, verstehst du?«
Ja, sie verstand die Wörter wohl, alles, was sie umfassten. Aber dennoch hatte sie das Gefühl, dass sie eine falsche, eine verborgene Tür enthielten, hinter der man ihren wahren Sinn finden würde.
»Dass sie mehr sind als das, was Sie gesagt haben«, schloss Joana seine Erklärung.
In einer plötzlichen Geste, ganz unwillkürlich, streckte der Lehrer ihr über den Tisch die Hand entgegen. Joana erbebte sehnsüchtig und reichte ihm errötend die ihre.
»Was ist?«, fragte sie
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