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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clarice Lispector
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… Im Grunde schmerzt mich das etwas: Dem Vater hätte es, nachlässig wie er war, nicht einmal etwas ausgemacht, Joana sogar in ein Erziehungsheim zu stecken … Ich habe Mitleid mit Joana, arme Kleine. Weißt du, Armanda hätten wir nie weggegeben, und wenn sie die ganze Buchhandlung ausgeraubt hätte.«
    »Das ist etwas anderes! Etwas ganz anderes!«, brach es triumphierend aus der Tante heraus. »Armanda ist, selbst wenn sie stehlen würde, noch ein Mensch! Aber dieses Mädchen … Du brauchst in diesem Fall mit niemand Mitleid zu haben, Alberto! Ich bin diejenige, die das Opfer ist … Sogar wenn Joana nicht zu Hause ist, bin ich ein Nervenbündel. Es ist verrückt, aber es kommt mir so vor, als würde sie mich überwachen … wissen, was ich denke … Manchmal lache ich und halte mittendrin erstarrt inne. Bald werde ich mich noch hier in meinem eigenen Haus, in meinem Heim, in dem ich meine Tochter großgezogen habe, bei diesem Kind wegen-ich-weiß-nicht-was entschuldigen müssen … Sie ist eine Natter. Eine kalte Natter, Alberto, nicht ein Fünkchen Liebe oder Dankbarkeit steckt in ihr. Es ist sinnlos, sie gern zu haben, sinnlos, ihr etwas Gutes zu tun. Ich habe es so im Gefühl, dass dieses Mädchen sogar fähig ist, jemanden umzubringen …«
    »Das darfst du nicht sagen!«, rief der Onkel entsetzt aus. »Wenn Joanas Vater ein anderer gewesen wäre, würde er jetzt aus dem Grabe aufsteigen!«
    »Verzeih, ich bin ganz außer mir, es ist nur sie, die mich dazu bringt, solche ketzerischen Dinge zu sagen … Sie ist ein merkwürdiges Wesen, Alberto, ohne Freunde und ohne Gott – er möge mir verzeihen!«
    Joanas Hände bewegten sich ohne ihr Zutun. Sie beobachtete sie mit einer leichten Neugier, vergaß sie dann aber gleich. Die Decke war weiß, die Decke war weiß. Sogar ihre Schultern, die sie immer so weit von sich geglaubt hatte, bebten und zitterten. Wer war sie? Die Natter. Ja, schon, aber wohin fliehen? Sie fühlte sich nicht schwach, sondern im Gegenteil von einer ungewöhnlichen Glut besessen, in die sich eine düstere, heftige Freude mischte. Ich leide, dachte sie plötzlich und war ganz überrascht. Ich leide, sagte ihr ein anderes Bewusstsein. Und auf einmal wuchs dieses andere Wesen ins Riesenhafte an und nahm den Platz desjenigen ein, das litt. Nichts geschah, wenn sie weiter darauf wartete, dass etwas geschehen würde … Man konnte die Ereignisse anhalten und ins Leere schlagen wie die Sekunden einer Uhr. Einen Moment lang blieb sie hohl, beobachtete sich aufmerksam, erkundete die Rückkehr des Schmerzes. Nein, sie wollte ihn nicht! Und wie um sich selbst aufzuhalten, voller Feuer, schlug sie sich selbst ins Gesicht.
    Sie flüchtete sich noch einmal zu ihrem Lehrer, der noch nicht wusste, dass sie eine Natter war …
    Der Lehrer nahm sie wieder auf, wundersamerweise. Und auf wundersame Weise drang er in Joanas dämmrige Welt ein und bewegte sich darin mühelos und rücksichtsvoll.
    »Was den idealen Menschen betrifft, geht es nicht darum, gegenüber anderen mehr wert zu sein. Es geht darum, dass man in sich selbst einen Wert hat, verstehst du, Joana?«
    »Ja, schon …«
    Er redete den ganzen Nachmittag:
    »Das Leben eines Tiers dreht sich letztlich um die Suche nach Befriedigung. Das Leben der Menschen ist viel komplexer: Es dreht sich um die Suche nach Befriedigung, um die Furcht davor und vor allem um die Unzufriedenheit in den Zeiten, die dazwischen liegen. Was ich da sage, ist ein bisschen vereinfacht, aber das tut jetzt nichts zur Sache. Verstehst du? Jegliche Sehnsucht ist Suche nach Befriedigung. Jegliche Reue, Mitleid, Güte ist Furcht davor. Jegliche Verzweiflung und Suche nach anderen Wegen sind Unzufriedenheit. Das in Kürze, wenn du so willst. Verstehst du das?«
    »Ja.«
    »Wer sich der Befriedigung verweigert, wer den Mönch spielt, in jedem Sinne, tut das, weil er eine ungeheure Fähigkeit zur Befriedigung besitzt, eine gefährliche Fähigkeit – daher ist seine Furcht noch größer. Nur wer fürchtet, auf alle zu schießen, hält seine Waffen unter Verschluss.«
    »Ja …«
    »Ich habe gesagt: Wer sich verweigert … Weil es … weil es diese Ebenen gibt, solche, die aus Erde gemacht sind, die ohne Dünger nie erblühen wird.«
    »Ich?«
    »Du? Nein, um Gottes willen … Du gehörst zu denen, die töten würden, um zu erblühen.«
    Sie hörte ihm weiter zu, und es war, als hätte es den Onkel und die Tante nie gegeben, als hätten der Lehrer und sie sich zurückgezogen ins

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