Nahe dem wilden Herzen (German Edition)
spürte das Haus, aber warum wunderten die Menschen sich nicht über ihr doch für sie so vollkommen unerklärliches Verhalten? Oh, bei ihr, der Natter, musste man auf alles gefasst sein, auch wenn es merkwürdig schien, sie, die Natter, ach der Schmerz und die schmerzende Freude. Die beiden hoben sich von dem dunklen Hintergrund ab, wie sie da vor ihr standen, nur im Blick des Lehrers lag ein wenig Überraschung.
»Mir war eben schwindlig«, sagte sie leise, und die Vitrine leuchtete immer noch wie ein Heiliger.
Kaum hatte sie es ausgesprochen, mit noch getrübtem Blick, spürte Joana eine fast unmerkliche Bewegung bei der Frau des Lehrers. Sie sahen sich an, und etwas Boshaftes, Gieriges und Gedemütigtes an der Frau ließ Joana langsam und verblüfft begreifen … Es war der zweite Schwindelanfall an einem Tag! Ja, der zweite Schwindelanfall an diesem Tag! Wie ein Fanfarenstoß… Sie sah die beiden eindringlich an. Ich werde dieses Haus verlassen, rief sie sich erregt zu. Und der Raum schloss sich immer mehr, von einem Augenblick zum anderen würde in dem Mann und der Frau die Furie erwachen! Wie ein Regenguss, wie ein Regenguss …
Ihre Füße versanken im Sand und tauchten schwer wieder auf. Es war schon Nacht, das Meer rollte dunkel und aufbrausend heran, die Wellen bissen sich in den Strand. Der Wind hatte sich in ihren Haaren eingenistet und ließ ihre kurzen Fransen wild flattern, Joana fühlte keine Benommenheit mehr, ein grober Arm lastete jetzt auf ihrer Brust, ein wohltuendes Gewicht. Irgendetwas wird bald kommen, dachte sie flüchtig. Es war der zweite Schwindelanfall an einem einzigen Tag! Morgens, als sie aus dem Bett gesprungen war, und jetzt … Ich fühle mich immer lebendiger, erkannte sie undeutlich. Sie begann zu laufen. Sie war plötzlich freier und wütender auf alles, spürte sie triumphierend. Und doch war es nicht Wut, sondern Liebe. Liebe, die so stark war, dass ihre Leidenschaft nur mit der Kraft des Hasses gezügelt wurde. Jetzt bin ich eine Natter, allein. Sie musste daran denken, dass sie sich jetzt wirklich von dem Lehrer getrennt hatte, dass sie nach jenem Gespräch nie mehr zu ihm zurückkehren könnte … Sie fühlte ihn weit weg, in jener Umgebung, die sie jetzt nur noch mit Schrecken und ohne jede Vertrautheit sehen konnte. Allein …
Der Onkel und die Tante saßen schon am Tisch. Aber wem von beiden würde sie sagen: Ich werde immer stärker, ich werde größer, bald werde ich eine Frau sein? Weder ihnen noch sonst irgendjemandem. Denn ich werde auch niemanden fragen können: Sag mal, wie ist das eigentlich?, nur um zu hören: Ich weiß es auch nicht, wie der Lehrer geantwortet hatte. Der Lehrer tauchte wieder vor ihr auf, wie er sich am Schluss zu ihr gebeugt hatte, erschreckt oder wild, das wusste sie nicht genau, aber auf dem Rückzug, ja, auf dem Rückzug. Die Antwort, das spürte sie, war nicht so wichtig. Was zählte, war, dass ihre Frage angenommen worden war, existieren konnte. Ihre Tante würde überrascht entgegnen: Was denn? Und wenn sie die Frage verstünde, würde sie wahrscheinlich antworten: Es ist so und so und so. Mit wem sollte Joana sich jetzt über die Dinge unterhalten, die existierten, mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der man über die anderen sprach, die, die bloß da waren?
Dinge, die existieren, und Dinge, die bloß da sind … Sie war überrascht über diesen neuen, unerwarteten Gedanken, der von jetzt an leben würde wie Blumen auf dem Grab. Der leben würde, ja, leben würde, und andere Gedanken würden geboren werden und leben, und sie selbst war lebendiger. Die Freude schnitt ihr wild durch das Herz und erleuchtete ihren Körper. Sie umklammerte das Glas mit den Fingern und trank mit geschlossenen Augen das Wasser, als wäre es Wein, blutiger Wein, glorreicher Wein, das Blut Gottes. Ja, sie würde keinem von ihnen erklären, dass alles sich langsam veränderte … Dass sie das Lächeln verwahrt hatte wie jemand, der endlich das Licht ausmacht und beschließt, sich schlafen zu legen. Jetzt waren keine Geschöpfe in ihrem Inneren zugelassen, um darin zu verschmelzen. Ihre Beziehungen zu anderen Menschen unterschieden sich immer stärker von ihren Beziehungen zu sich selbst. Die Süße der Kindheit entschwand in ihren letzten Spuren, eine Quelle versiegte nach außen hin, und was sie den Schritten der Fremden bot, war farbloser, trockener Sand. Aber sie lief vorwärts, immer vorwärts, wie man den Strand entlanggeht, wo der Wind das
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