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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clarice Lispector
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schließen und meine eigene hören, die träge und trübe wie ein lehmiger Fluss entgleitet. Die Feigheit ist lau, und ihr ergebe ich mich, indem ich alle Heldenwaffen niederlege, die mir siebenundzwanzig Jahre Denken gewährt haben. Was bin ich heute, in diesem Augenblick? Ein glattes, stummes Blatt, das auf die Erde gefallen ist. Kein Lufthauch bewegt es. Es atmet kaum, um nicht aufzuwachen. Aber warum, vor allem warum nicht die geeigneten Wörter benutzen und mich einrollen, mich an Bilder schmiegen? Warum mich ein totes Blatt nennen, wo ich doch nur ein Mann mit überkreuzten Armen bin?
    Von neuem überkam ihn inmitten sinnloser Überlegungen Müdigkeit, das Gefühl zu stürzen. Beten, beten. Vor Gott niederknien und bitten. Worum? Um die Absolution. Ein großes Wort, so voller Bedeutungen. Er war nicht schuldig – oder doch? wessen? Er wusste, dass er es war, dennoch verfolgte er weiter den Gedanken – er war nicht schuldig, aber wie gern würde er die Absolution erhalten. Über seinem Kopf die großen dicken Finger Gottes, der ihn wie ein guter Vater segnete, ein Vater aus Erde und Welt, der alles enthielt, alles, selbst das winzigste Teilchen, damit es ihm später nicht vorhalten könnte: Ja, aber ich habe dir nicht vergeben! Dann würde diese stumme Anklage ein Ende haben, die alle Dinge gegen ihn richteten.
    Was dachte er nun wirklich? Wie lange spielte er nun schon mit sich, wenn auch unbeweglich? Er machte eine beliebige Geste.
    Cousine Isabel trat herein. »Gesegnet, gesegnet, gesegnet«, sagte ihr hastiger, kurzsichtiger Blick, der sich nach Rückzug sehnte. Sie legte diese Haltung einer Fremden nur ab, wenn sie sich ans Klavier setzte. Otávio kroch in sich zusammen wie in seiner Kindheit. Dann lächelte sie, war menschlich, verlor sogar ihre durchdringende Art. Sie nahm eine glatte, zugänglichere Wesensart an. Am Klavier sitzend, mit mehligen, alten Lippen, spielte sie Chopin, Chopin, besonders alle seine Walzer.
    »Die Finger sind steif geworden«, bemerkte sie, stolz, dass sie auswendig gespielt hatte. Während sie sprach, warf sie den Kopf plötzlich kokett zurück, wie eine Tänzerin in einem Nachtclub. Otávio wurde rot. Hure, dachte er und löschte das Wort sofort aus mit einer schmerzvollen Bewegung. Wie konnte er es nur wagen? Er erinnerte sich an ihr Gesicht, das aufmerksam über ihn gebeugt war, wenn sie sich wegen seiner Magenschmerzen sorgte. Eben deshalb verabscheue ich sie, dachte er ohne jede Logik. Und es war immer zu spät: Der Gedanke kam ihm zuvor. Hure – als würde er sich selbst peitschen. Aber auch wenn er es bereute, sündigte er doch erneut. Wie oft war ihm nicht als Kind kurz vor dem Einschlafen plötzlich bewusst geworden, dass Cousine Isabel im Bett war, nicht schlafen konnte, vielleicht aufrecht dasaß, das graue Haar zu einem Zopf geflochten, das Nachthemd aus dickem Tuch hochgeschlossen wie bei einer Jungfrau. Er fühlte, wie Gewissensbisse sich wie Säure über seinen ganzen Körper ausbreiteten. Aber er hasste sie immer mehr, weil er sie nicht lieben konnte.
    Sie konnte nicht mehr wie früher sanft von einer Note zur anderen hinübergleiten, wie in eine Ohnmacht. Ein Ton verband sich mit dem nächsten, rau, synkopiert, und die Walzer erschallten schwach, sprunghaft und voller Aussetzer. Manchmal unterteilten die langsamen, hohlen Schläge der alten Uhr die Musik in asymmetrische Takte. Otávio lauerte mit klopfendem Herzen auf den nächsten Schlag. Als würden sie alle Dinge in einen stummen Tanz sanften Wahnsinns stürzen. Diese Schläge, die unerbittlich die Musik zerschnitten, immer im gleichen kalten, lächelnden Ton, schleuderten ihn in sich selbst wie in ein Vakuum ohne Halt. Er beobachtete den steifen Rücken seiner Cousine, ihre Hände – zwei dunkle Tiere, die auf den gelben Tasten des Klaviers umhersprangen. Sie drehte sich um und sagte, ihm den Satz aus reiner Euphorie gewährend, leichthin, wie jemand, der Blumen wirft:
    »Was hast du denn? Ich werde etwas Fröhlicheres spielen …«
    Es folgte einer dieser unbeschwerten, lebhaften Salonwalzer, er konnte sich nicht erinnern, sie je gehört zu haben, sie vereinten sich aber auf geheimnisvolle Weise mit alten Stücken in seinem Gedächtnis …
    »Nicht das, Cousine, bitte …«
    Es war zu komisch. Er hatte Angst. Sich zu entschuldigen, weil er sich für ihre Musik nicht begeistern konnte, sich zu entschuldigen, weil er sie von klein auf unerträglich fand mit diesem Geruch nach alten Lumpen, muffigen

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