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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clarice Lispector
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Gedankens war. »De Profundis«. Sie fühlte ihn wanken, fast das Gleichgewicht verlieren und für immer in unbekannten Gewässern untertauchen. Oder auch, zeitweilig, die Wolken wegschieben und bebend wachsen, fast ganz hervortauchen … Danach Schweigen.
    Sie schloss die Augen, langsam begann sie sich zu entspannen. Als sie sie öffnete, zuckte sie leicht zusammen. Und während langer, tiefer Sekunden erkannte sie, dass dieser Lebensausschnitt eine Mischung aus schon Gelebtem und noch zu Lebendem war, es ging alles ineinander über, war eins und ewig. Merkwürdig, merkwürdig. Das orangefarbene Licht morgens um neun, dieses Gefühl von Zwischenzeit, weit weg ein Klavier, das auf den hohen Tönen beharrte, ihr Herz, das schnell gegen die Morgenwärme anschlug und, hinter allem, unbändig, bedrohlich, das schwer und ungreifbar pochende Schweigen. Alles löste sich auf. Das Klavier unterbrach die Beharrlichkeit der letzten Noten, und nach einem Augenblick der Ruhe nahm es sanft mit einigen Tönen aus der Mitte wieder eine klare, einfache Melodie auf. Und wenig später hätte sie nicht sagen können, ob das Gefühl am Morgen wirklich oder nur eine Vorstellung gewesen war. Sie hielt aufmerksam inne, um es wiederzuerkennen … Plötzliche Müdigkeit verwirrte sie für einen Augenblick. Die Nerven beruhigt, das Gesicht entspannt, fühlte sie eine leichte Welle von Zärtlichkeit für sich selbst, fast war es Dankbarkeit, obwohl sie nicht wusste, warum. Für eine Minute erschien es ihr, als habe sie schon gelebt und sei nun am Ende. Und gleich darauf, dass bisher alles weiß gewesen war, wie ein leerer Raum, und dass sie von weitem gedämpft das Rauschen des Lebens näher kommen hörte, geballt, überschäumend und heftig, die hohen Wellen durchbrachen den Himmel, kamen näher und näher … um sie zu überschwemmen, zu überschwemmen, zu ertränken, zu ersticken …
    Sie trat ans Fenster, streckte die Arme nach draußen und wartete vergeblich, dass eine leichte Brise sie streichelte. So verharrte sie eine ganze Weile selbstvergessen. Sie hielt die Ohren halb geschlossen durch eine Anspannung der Gesichtsmuskeln, die Augen waren zu und ließen kaum Licht durch, der Kopf war nach vorn geneigt. Es gelang ihr allmählich, sich wirklich abzuschließen. Dieser halb bewusstlose Zustand, in dem es ihr so vorkam, als würde sie tief eintauchen in lauwarme, graue Luft … Sie stellte sich vor den Spiegel und stieß mit vor Hass brennenden Augen zwischen den Zähnen hervor: »Und jetzt?«
    Sie konnte nicht anders, als ihr eigenes kleines entflammtes Gesicht zu bemerken. Einen Moment lang ließ sie sich davon ablenken und vergaß ihre Wut. Immer gerade dann geschah eine Kleinigkeit, die sie von der Hauptströmung ablenkte. Sie war so verwundbar. Hasste sie sich deshalb? Nein, sie würde sich viel mehr hassen, wenn sie jetzt schon ein bis zum Tod unveränderlicher Stamm wäre, gerade einmal in der Lage, Früchte zu geben, aber nicht, in sich selbst wachsen zu können. Noch mehr ersehnte sie sich: immer wiedergeboren zu werden, alles, was sie gelernt, gesehen hatte, abzutrennen und sich ein neues Gebiet zu eröffnen, wo jede kleine Tat eine Bedeutung hätte, wo man die Luft wie beim ersten Mal einatmen würde. Es war ihr, als strömte das Leben dickflüssig und schwerfällig in ihr, brodelnd wie eine warme Schicht von Lavamassen. Vielleicht, wenn sie liebte … Und wenn, dachte sie wie von weitem, plötzlich ein Fanfarenstoß schrill diese nächtliche Decke zerreißen würde und die Ebenen frei, grün, weit erscheinen ließe … Und dann würden nervöse weiße Pferde rebellisch Hals und Beine bewegen, würden fast fliegend Flüsse, Berge und Täler durchqueren … Bei dem Gedanken fühlte sie frische Luft in sich kreisen, als käme sie aus einer feucht und kühl in der Wüste verborgenen Grotte.
    Aber kurz darauf kehrte sie in einem senkrechten Sturz zu sich selbst zurück. Sie tastete die Arme, die Beine ab. Da war sie. Da war sie. Aber man musste sich doch ablenken, dachte sie voller Härte und Ironie. Dringend. Würde sie denn nicht sterben? Sie lachte laut auf und betrachtete sich dabei flüchtig im Spiegel, um die Wirkung des Lachens auf ihrem Gesicht zu sehen. Nein, es hellte sich nicht auf. Wie eine Wildkatze war sie, die Augen brannten über dem erhitzten Gesicht mit den dunklen Sommersprossen, die braunen Haare lagen wirr über den Augenbrauen. Sie erblickte düsteren, triumphierenden Purpur in sich. Was ließ sie so leuchten?

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