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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clarice Lispector
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sie nicht einmal vom Äußeren her die Frau sei, die ihm gefallen würde. Er zog kleine, abgeschlossene Körper ohne bewusste Absichten vor. Oder große, wie der seiner Verlobten, ruhende, stumme. Was immer er ihnen sagen würde, wäre genug. Joanas zerbrechliche, skizzenhafte Konturen waren unbequem. Aufdringlich, mit offenen, weiß glühenden Augen. Sie war nicht hübsch, zu schlank. Selbst ihre Sinnlichkeit musste anders sein als die seine, viel zu hell leuchtend.
    Von dem Augenblick an, in dem er sie kennengelernt hatte, versuchte Otávio jede Einzelheit an ihr wahrzunehmen, und er sagte sich: Es soll sich in mir kein zärtliches Gefühl entwickeln; ich muss sie gut in Augenschein nehmen. Aber als ahnte sie seinen prüfenden Blick, drehte Joana sich genau in dem Moment zu ihm um, lächelnd, kühl, nicht sehr passiv. Und er reagierte dümmlich, redete, im verwirrten und hastigen Bemühen, ihr zu gehorchen. Statt sie zu zwingen, sich zu offenbaren, und sie so in ihrer Macht zu zerstören. Und obwohl es den Anschein hatte, als kennte sie die einfachsten Dinge nicht, hatte sie ihn doch beim ersten Treffen so schnell auf sich selbst zurückgeworfen! Sie hatte ihn in sein eigenes Inneres geschleudert und einfach kalt die kleinen, bequemen Formeln vergessen, die ihn hielten und ihm die Verständigung mit den Menschen erleichterten.
    Joana erzählte ihm …
    … Der Alte kam näher, der dicke Körper schwankte, er hatte einen kahlen Schädel. Er trat zu ihr, schürzte die Lippen, machte große runde Augen und sprach mit weinerlicher Stimme, das Geplapper eines Kindes nachahmend:
    »Ich hab mir wehgetan … aua, aua … hab ich eine Salbe draufgetan, ist schon bisschen besser …«
    Er verdrehte die Augen, und einen Augenblick lang erzitterten die Fettschichten, der Glanz seiner feuchten, erschlafften Lippen schimmerte sacht. Joana beugte sich ein wenig zu ihm hin und sah die zahnlosen Kiefer.
    »Hast du kein Mitleid mit mir?«
    Sie sah ihn ernst an. Er wunderte sich nicht weiter:
    »Sagst du nicht einmal ›du Ärmster‹?«
    Man konnte sich ausschütten vor Lachen und Staunen, wenn man ihn so sah, klein, mit dem vorstehenden Hinterteil, den großen, aufmerksamen Augen, in einer weiten, bebenden Haltung. Sie schwieg immer noch. Dann, langsam, im gleichen Ton:
    »Du Ärmster.«
    Er lachte, hielt das Spiel für beendet und drehte sich in Richtung Tür. Joana folgte ihm mit den Augen, beugte sich ein wenig vor, um ihn vollständig sehen zu können, kaum hatte er sich vom Tisch entfernt. Sie blickte ihm aufrecht, kühl, mit hellen, offenen Augen nach. Sie sah sich einen Moment lang suchend auf dem Tisch um und griff dann nach einem kleinen, dicken Buch. In dem Augenblick, als er die Hand an den Türknauf legte, bekam er es mit aller Kraft in den Nacken. Er drehte sich sofort um, die Hand auf dem Kopf, die Augen vor Schmerz und Schreck aufgerissen. Joana verharrte in derselben Stellung. Gut, dachte sie, jetzt hat er wenigstens dieses widerliche Gebaren verloren. Ein alter Mann sollte nur leiden.
    Laut und freundlich sagte sie:
    »Entschuldigung. Da war eine kleine Eidechse über der Tür.« Kleine Pause. – »Ich habe schlecht gezielt.«
    Der Alte sah sie immer noch an, ohne zu begreifen. Dann überkam ihn vages Entsetzen in Anbetracht dieses lächelnden Gesichts.
    »Auf Wiedersehen … Es war nichts … « Herrgott! – »Bis bald …«
    Als die Tür sich schloss, blieb sie noch eine Weile mit lächelndem Gesicht sitzen. Sie zuckte leicht mit den Schultern. Mit leerem, müdem Blick trat sie ans Fenster.
    »Vielleicht sollte ich Musik hören.«
    »Ja, es stimmt, ich habe das Buch nach ihm geworfen«, antwortete Joana auf Otávios Frage.
    Er versuchte großspurig zu klingen.
    »Aber das hast du dem Alten natürlich nicht gesagt!«
    »Nein, ich habe gelogen.«
    Otávio sah sie an, vergebens suchte er ein Anzeichen von Reue und Geständnis.
    »Erst wenn ich mehr oder besser gelebt habe, wird es mir gelingen, das Menschliche abzuwerten«, sagte Joana manchmal zu ihm. »Menschlich – ich. Menschlich – die Menschheit in Individuen aufgeteilt. Sie vergessen, denn meine Beziehung zu ihnen kann bloß sentimentaler Natur sein. Wenn ich sie aufsuche, fordere ich von ihnen oder gebe ihnen das, was den alten Begriffen gleichkommt, die wir immerzu hören, ›Brüderlichkeit‹, ›Gerechtigkeit‹. Wenn diese einen wirklichen Wert hätten, dann wäre es der, die Basis des Dreiecks zu sein und nicht die Höhe. Sie wären die Bedingung

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