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Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Nahe dem wilden Herzen (German Edition)

Titel: Nahe dem wilden Herzen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clarice Lispector
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denn je, konnte man sich nichts und niemanden vorstellen, der glücklicher und vollständiger gewesen wäre. Obwohl viele sie nachsichtig ansahen und sie für schwach hielten. Ihr Wille war nämlich so stark, dass sie es nie unterließ, sehr gut zu Mittag und zu Abend zu essen, ohne übermäßigen Genuss übrigens. Nichts von dem, was man sagte, berührte sie, ebenso wenig wie die Ereignisse, alles glitt an ihr vorüber und verlor sich in anderen Gewässern, nicht in denen ihres Inneren.
    Eines Tages, nachdem sie, ohne sich zu langweilen, viele gleichförmige Tage verbracht hatte, sah sie sich plötzlich anders als sonst. Sie war müde. Sie ging auf und ab. Sie wusste selbst nicht, was sie wollte. Sie begann leise zu summen, mit geschlossenem Mund. Dann wurde sie es leid und begann, an etwas anderes zu denken. Aber es gelang ihr nicht so ganz. In ihr versuchte etwas stillzustehen. Sie wartete, und nichts kam von ihr für sie. Allmählich überfiel sie eine Traurigkeit, die unzulänglich und deshalb doppelt traurig war. Noch einige Tage lebte sie so fort, und ihre Schritte klangen wie tote Blätter, die auf die Erde fallen. Sie selbst war innerlich mit Grau überzogen und sah nichts in sich als einen Abglanz, wie weißliche Tropfen, die herabfallen, einen Abglanz ihres ursprünglichen Rhythmus, der jetzt träge und schwerfällig war. Da wusste sie, dass sie erschöpft war, und zum ersten Mal litt sie, weil sie sich wirklich in zwei geteilt hatte, ein Teil stand vor dem anderen, bewachte ihn und wünschte Dinge, die dieser nicht mehr geben konnte. In Wahrheit war sie immer zwei gewesen, die, die flüchtig wusste, dass sie war, und die, die wirklich war, ganz tief. Nur hatten die beiden bis dahin zusammengearbeitet und waren nicht auseinanderzuhalten gewesen. Jetzt arbeitete die, die wusste, dass sie war, allein, und das bedeutete, dass jene Frau unglücklich und intelligent war. In einer letzten Anstrengung versuchte sie etwas zu erfinden, einen Gedanken, der ihr Zerstreuung bringen könnte. Vergeblich. Sie konnte nur leben.
    Bis die Abwesenheit von sich selbst schließlich dazu führte, dass sie in die Nacht fiel, und beruhigt, verdunkelt und kühl begann sie zu sterben. Dann starb sie sanft, als sei sie ein Geist. Man weiß nicht genau, warum sie starb. Man kann nur ahnen, dass sie am Ende ebenso glücklich war, wie etwas oder jemand es nur sein kann. Denn sie war für das Wesentliche geboren worden, um zu leben oder zu sterben. Und das Dazwischen bedeutete für sie Leiden. Ihr Leben war so vollständig und so sehr an die Wahrheit gebunden, dass sie wahrscheinlich, wenn sie die Angewohnheit gehabt hätte zu denken, in der Stunde des Sich-Hingebens und Sterbens gedacht hätte: Ich bin nie gewesen. Man weiß auch nicht, was aus ihr geworden ist. Auf ein so schönes Leben muss auch ein schöner Tod gefolgt sein. Sicherlich ist sie heute Sandkörner. Sie blickt fortwährend zum Himmel hinauf. Manchmal regnet es, und sie wird voll und rund in ihren Körnern. Wenn die Dürre kommt, trocknet sie, und jeder Windstoß verweht sie. Jetzt ist sie ewig.
    Einen Augenblick lang saß sie gedankenverloren da, dann erkannte Joana, dass sie sie beneidet hatte, jenes halbtote Wesen, das ihr zugelächelt und mit einer unbekannten Stimme zu ihr gesprochen hatte. Vor allem, dachte sie noch, versteht sie das Leben, weil sie nicht intelligent genug ist, es nicht zu verstehen. Aber was halfen irgendwelche Überlegungen … Wenn man zu dem Punkt aufstiege, wo man es verstünde, ohne dabei jedoch wahnsinnig zu werden, könnte man das Wissen doch nicht als Wissen bewahren, man würde es vielmehr in eine Einstellung umwandeln, in eine Lebenseinstellung, die alleinige Art und Weise, es zu besitzen und vollständig auszudrücken. Und diese Einstellung wäre nicht viel anders als die, in der die Frau mit der Stimme ruhte. Die Handlungsmöglichkeiten waren so beschränkt.
    Sie machte eine schnelle, ungeduldige Bewegung mit dem Kopf. Sie nahm einen Bleistift und kritzelte mit betont sicherer Schrift auf ein Stück Papier: »Die Persönlichkeit, die sich selbst nicht kennt, verwirklicht sich am vollkommensten.« Richtig oder falsch? Aber in gewisser Weise hatte sie sich gerächt, indem sie über diese so von Leben geblähte Frau ihre kalten, intelligenten Gedanken geworfen hatte.

OTÁVIO
    »De Profundis«. Joana wartete, bis die Vorstellung sich klarer abzeichnete, bis aus dem Nebel diese glänzende, leichte Kugel aufstieg, die der Keim eines

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