Nahe dem wilden Herzen (German Edition)
Die Langeweile … ja, trotz allem lag darunter Feuer, wirklich Feuer, auch wenn es den Tod bedeutete. Vielleicht war das die Freude am Leben.
Und wieder überfiel sie die Unruhe, rein, ohne Überlegungen. Oh, vielleicht sollte ich laufen, vielleicht … Sie schloss für einen Moment die Augen und gestattete sich das Entstehen einer Geste oder eines Satzes ohne jede Logik. Das tat sie immer, sie vertraute darauf, dass im Untergrund, unter den Lavamassen, ein Wunsch liegen könnte, der schon auf ein bestimmtes Ziel gerichtet war. Wenn sie manchmal durch einen besonderen Mechanismus, genauso wie man in den Schlaf hinübergleitet, die Tore zu ihrem Bewusstsein schloss und sich handeln oder sprechen ließ, empfing sie überrascht – weil sie die Geste erst in dem Augenblick wahrnahm, in dem sie ausgeführt wurde – eine Ohrfeige von eigener Hand. Manchmal hörte sie merkwürdige, verrückte Wörter aus ihrem eigenen Mund. Auch ohne sie zu verstehen, fühlte sie sich dadurch leichter und freier. Sie wiederholte das Experiment mit geschlossenen Augen.
Und tief aus ihrem Innern stieg es nach einem Augenblick der Stille und der Selbstvergessenheit hoch, erst bleich und schwankend, dann immer stärker und schmerzvoller: Aus der Tiefe, Herr, rufe ich zu dir … Aus der Tiefe, Herr, rufe ich zu dir … Aus der Tiefe, Herr, rufe ich zu dir … Sie hielt noch eine Weile inne, ihr Gesicht war ausdruckslos, entspannt und müde, als hätte sie ein Kind bekommen. Langsam wurde sie wiedergeboren, öffnete behutsam die Augen und kehrte ans Tageslicht zurück. Zerbrechlich, leicht atmend, glücklich wie eine Genesende, die den ersten Lufthauch fühlt.
Da kam ihr der Gedanke, dass sie in Wahrheit gebetet hatte. Nicht sie. Irgendetwas anderes, das mehr war als sie, das ihr gar nicht mehr bewusst war, hatte gebetet. Aber sie wollte nicht beten, wiederholte sie sich noch einmal schwach. Sie wollte nicht, weil sie wusste, dass dies das Heilmittel wäre. Aber ein Heilmittel wie Morphium, das jede Art von Schmerz einschläfert. Wie Morphium, von dem man immer größere Dosen einnehmen muss, um seine Wirkung zu spüren. Nein, sie war noch nicht so erschöpft, dass sie ein feiges Bedürfnis verspürte zu beten, statt den Schmerz zu entdecken, ihn zu erleiden, ihn ganz zu besitzen, um alle seine Geheimnisse zu ergründen. Und selbst wenn sie betete … Sie würde in einem Kloster enden, weil für ihren Hunger fast alles Morphium nicht reichen würde. Und das wäre die endgültige Demütigung, das Laster. Andererseits würde sie, wie selbstverständlich, wenn sie sich nicht außerhalb einen Gott suchte, schließlich sich selbst vergöttern, ihren eigenen Schmerz erforschen, ihre Vergangenheit lieben, Zuflucht und Wärme in ihren eigenen Gedanken suchen, die dann schon in dem Streben, ein Kunstwerk zu erschaffen, geboren und später, während karger Zeiten, als fade Nahrung dienen würden. Es bestand die Gefahr, sich im Leid einzurichten und sich in ihm zurechtzufinden, was einem Laster gleichkäme und auch einem Beruhigungsmittel.
Was also tun? Was tun, um diesen Weg zu unterbrechen, sich eine Pause zu gönnen zwischen ihr und ihr selbst, um sich später gefahrlos neu und rein wiederfinden zu können?
Was tun?
Das Klavier wurde wieder absichtlich in kräftigen, gleichmäßigen Tonleitern attackiert. Übungen, dachte sie. Übungen … Doch, erkannte sie belustigt … Warum nicht? Warum nicht versuchen zu lieben? Warum nicht versuchen zu leben?
Reine Musik, die sich auf einer Erde ohne Menschen entwickelt, dachte Otávio. Musikalische Sätze, die noch unbewertet waren. Unbewusst wie das ursprüngliche Leben, das in blinden stummen Bäumen pulsiert, in den kleinen Insekten, die geboren werden, fliegen, sterben und wieder geboren werden ohne Zeugen. Während die Musik umherwirbelt und sich entfaltet, leben der frühe Morgen, der kräftige Tag, die Nacht mit einer bestimmten Note in der Symphonie, der der Verwandlung. Musik, die sich nicht auf Dinge stützt, auf Raum und Zeit, von derselben Farbe wie Leben und Tod. Leben und Tod als Vorstellung, abgetrennt von Lust und Schmerz. So weit entfernt von menschlichen Eigenschaften, dass sie mit dem Schweigen verschmelzen könnten. Schweigen, weil diese Musik die notwendige, einzig mögliche, vibrierende Projektion der Materie wäre. Und ebenso, wie man die Materie nicht begreift und nicht wahrnimmt, bis die Sinne auf sie stoßen, würde man ihre Musik nicht hören.
Und dann?, dachte er. Die Augen
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